Die Essenz der Aufrechten

Wettbewerbsbeitrag von JoKAnders, 24 Jahre

Hier noch ein wenig Farbe, dann ein letzter Strich. Zufrieden blicke ich auf mein neustes Werk. Es bildet das Verständnis der Aufrechten zu Distanzen ab – von der Nähe zwischen Partnern über die Mobilität aus eigener Körperkraft und bis zur maschinengestützten Mobilität auf globalen Distanzen. Der Gang der Aufrechten fasziniert mich dabei nach wie vor am meisten. Eine ewige Abfolge aus Fallen und Abfangen, geschmeidig als wäre es das Leichteste der Welt. Lediglich den Kleinsten kann ich ansehen, dass der Gang eine hochkomplexe Abfolge von Bewegungen darstellt. Vorsichtig stelle ich es zu meinen anderen Werken. Sie zeigen die globalen Treffen der Mächtigen, das Zusammenleben der Armen, die kleinen Momente in Familien, die Unternehmungen von Freunden, sie zeigen glückliche und traurige Momente, und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu meiner Spezies. Die Sammlung beträgt bald 365 Werke, eines für jeden Tag eines Jahres auf ihrem Planeten. Dann werde ich mich entscheiden müssen: Nur eines dieser Bilder kann die Essenz der Aufrechten darstellen, die Charakteristik, die ihre Spezies definiert und den Schlüssel zur Kommunikation gibt.

Zurück auf meinem Heimatplaneten bin ich zur „17. Konferenz zur Vorbereitung der Kontaktaufnahme mit den Aufrechten“ eingeladen. In den letzten Wochen habe ich immer wieder meine Werke gesichtet, vorsortiert, aussortiert, kategorisiert und dann von vorne angefangen. Nun ist meine Wahl getroffen und ich bin hier. Hinter dem Vorhang höre ich Gelächter, Begrüßungen, Gespräche – gleich geht es los. Zitternd fliege ich auf und ab. Langsam verstummen die Gespräche, dann vernehme ich die Stimme des Präsidenten der Gesellschaft für intergalaktische Kommunikation: „Wenn wir auf unser Gegenüber blicken, so nehmen wir ihn immer im Vergleich zu uns war. Das gilt sowohl für eine Begegnung mit Freunden als auch für Begegnungen mit den Aufrechten.“ Ich denke zurück an meine vergangenen Monate. Bin ich den Aufrechten mit meiner Darstellung gerecht geworden? Der Präsident fährt fort: „Eine Begegnung mit den Aufrechten stellt eine große Herausforderung dar und muss mit höchster Vorsicht angegangen werden. Eine falsche Handlung und eine interplanetare Kooperation kann scheitern.“

Voller Nervosität gerate ich kurz ins Trudeln und fange mich nur kurz bevor ich den Vorhang streife. „Deshalb haben wir nicht nur Wissenschaftler gebeten, die Aufrechten zu studieren, sondern auch Künstler. Bitte begrüßen Sie mit mir Xynaja.“ Der Vorhang geht hoch und das Publikum erblickt mich. Innerlich bebend und doch äußerlich hoffentlich gefasst, segle ich zum Rednerpult. Hinter mir wird mein Werk gezeigt: die ausgestreckte Hand eines Kindes. Ich hole tief Luft. „Diese Werk zeigt die Essenz der Menschlichkeit: eine helfende Hand.“ Ein paar Lacher dringen an meine Ohren. Ich fahre fort: „Ich habe die Mächtigen und die Armen des blauen Planeten beobachtet, habe ihre Interaktionen beobachtet und dokumentiert. Diese Geste ist die Wichtigste im Leben der Aufrechten. Die Jungen und Alten, die Starken und Schwachen, die Machtlosen und Mächtigen nutzen sie. Sie ist der Schlüssel, das Leben der Aufrechten zu verstehen.“ Das Publikum tuschelt und wird dann unangenehm still. Der Präsident gleitet zu mir herüber und beugt sich vor: „Sie haben doch sicherlich noch etwas anderes zu berichten, oder? Etwas Nützliches für unsere Mission?“ Verunsichert suche ich nach Worten und verschlucke sie doch wieder. Enttäuscht und verwirrt schüttle ich den Kopf. Er seufzt und sagt für alle hörbar: „Zu Unserem Glück haben wir nicht nur Künstler auf Forschungsreise geschickt. Bitte begrüßen Sie unseren nächsten Redner, den Datenanalysten …“

Am liebsten würde ich in den Himmel steigen. „Etwas Nützliches für unsere Mission.“ Pah! Bei einer Kontaktaufnahme wird es keinen Aufrechten interessieren, ob wir die globale Länge Ihrer Transportwege oder ihre statistische Wahrscheinlichkeit, an verschiedenen Krankheiten zu sterben, vortragen können. Die ausgestreckte Hand wird das wichtigste Symbol sein, einen friedlichen Kontakt herzustellen. Da bin ich mir sicher, und doch hatte ich bereits befürchtet, dass mein Werk abgelehnt werden würde. Die größten Wahrheiten stecken manchmal in den scheinbar banalen Alltäglichkeiten. 

Zehn Jahre später, meine Präsentation – genau wie meine Person, sind in Vergessenheit geraten. Nach meinem Auftritt damals haben mich nur sehr wenige je wieder ernst genommen. Doch nun wurde nach vielen Jahren der Vorbereitung das Wagnis eingegangen, Kontakt zu den Aufrechten aufzunehmen. Das lief schlechter als erhofft: Waffensysteme auf dem gesamten Planeten wurden hochgefahren und keins der Friedensangebote wurde verstanden. Bevor die Situation eskaliert, werden wir uns zurückziehen müssen. Es fehlt der Schlüssel zur Kommunikation. In einer letzten Verhandlung erinnert sich der Präsident der Gesellschaft für intergalaktische Kommunikation an meinen Werk und streckt seinen Flügel den Mächtigen des blauen Planeten entgegen.

Zögerlich wird dieser erst von einem der Mächtigen der Aufrechten, dann von immer mehr, ergriffen und geschüttelt.

Alle Infos

Die Über All Lesung

Lasst euch von sieben der Preisträger:innen des Wettbewerbs Über All in ferne Welten entführen

Die Über All-Preisträger:innen

Vielen Dank an alle Teilnehmenden für diese spannenden Exkursionen ins All und herzlichen Glückwunsch den Preisträger:innen

Die Über All Jury

Teilnahmebedingungen

Preise - Das gibt es zu gewinnen!

Schirmherrin Dr. Suzanna Randall

EINSENDUNGEN

Autorin / Autor: JoKAnders