Wir Fremden

Wettbewerbsbeitrag von Lau, 24 Jahre

Wenn die subtilen Geräusche der Schlafenden die lärmenden Geräusche der Wachen ablösen und Lichter in den dunklen Fugen der Kapseln versickern, dann treffe ich sie. Ich weiß nicht, wann genau wir damit angefangen haben – Zeit auf diesem Planeten ist noch immer ein Umrechnungsproblem für mich. Was ich weiß, ist das: Ich würde alles dafür geben, um die Stunden, bis sie auftaucht, zu Minuten, zu Sekunden, zu machen. Meine Frustration über das lange Warten wird zu Vorfreude wird zu Aufregung wird zu dem Moment, in dem ich aus der Kapsel schleiche. In brüchigem Englisch höre ich: »Luft ist rein!«, dann sehe ich sie aus dem Schatten treten. Meine EM. Eine Umarmung: Meine fremde, helle auf ihrer dunklen, ledrigen Haut, die die Nähe zur Sonne den Einwohnenden hier verliehen hat. Ein Schritt zurück und ein glitzernder Blick aus ihren schmalen Augen, die keine Iris zu haben scheinen, nur Pupille. Dann greifen meine Finger wieder ihren Anzug, den hier jeder zum Schutz vor den rauen Gegebenheiten des Planeten trägt. Ich ziehe sie an mich und umfasse ihren Kopf, lehne meine Stirn an ihre. Sie hat keine Haare. Ihre Schönheit ist mit menschlichen Maßstäben kaum zu messen.

Nächtliche Gespräche führt man am besten im Teil des Lagers, in dem tagsüber das Essen stattfindet; weit weg von den unberechenbaren Schlafenden, die womöglich bald aus ihren Albträumen gerissen und zur Beruhigung an die Luft gehen würden. Wir schleichen uns hinter die Stahlkuppel, in der Nahrung in unappetitlichen Tuben lagert, und lassen uns im Schatten nieder. Ich sage unvermittelt: »Wir werden abgeschoben.«

EM sieht mich ruhig an. Ihre Augen sind traurig, aber nicht überrascht. Es war nur eine Frage der Zeit, das wissen wir beide. Wir waren von Anfang an – seit dem Tag, als EM die ersten illegalen Hilfspakete brachte – mit einem Ablaufdatum versehen, gesetzt durch die Politik und den Mangel an Rechten, die wir Menschen hier haben. Niemand interessiert sich für unsere fremden Leben. Oder für zwei verliebte Mädchen, die sie auseinanderreißen.
»Wann?«, fragt sie.
»Übermorgen früh.«

EM nickt und lehnt ihren Kopf an das kühle Metall der Kuppel. Ich folge ihrem Blick gen Himmel. In wenigen Tagen schwebe ich irgendwo zwischen den Sternen. Sterbe womöglich dort, so wie Unzählige vor mir. Viele Sonnenumdrehungen auf der Flucht nähren die Depressionen und betäuben die Lust auf den Kampf ums Überleben. In Gedanken weit weg sage ich: »Wo ich herkomme, wurden ständig Menschen abgeschoben. Wir waren aufgeteilt in politische Machtgebiete, Staaten. Jeder mit seinen eigenen Regeln, eigenen Sprachen, eigenen Kulturen… Wir haben uns behandelt wie Fremde, bevor wir den Planeten verlassen mussten. Es gab Lager wie diese hier, schlimm und widerlich und dreckig, in denen Geflüchtete aus anderen Staaten gelebt haben. Kinder sind dort aufgewachsen, so wie hier. Menschen wurden verletzt oder getötet, weil sie aus einem anderen Staat kamen oder eine andere Hautfarbe hatten. Ich habe kaum zweimal darüber nachgedacht.« Ich schlucke, bevor ich fortfahre: »So oft habe ich mir ausgemalt, einen anderen Planeten zu bewohnen. Es war alles, womit sich die Menschheit in ihren letzten Jahren beschäftigt hat: Wo, wie, wann – es klang immer so, als würden wir auf einen leeren Planeten auswandern. Die Welt war euphorisch, als wir endlich eine passende Heimat gefunden haben. Nie habe ich darüber nachgedacht, dass wir alle zu Geflüchteten würden.« Ich schmecke Tränen, die sich heimlich meine Wange hinuntergeschlichen haben. Meine Stimme entgleitet mir. »Warum hassen sie uns hier so sehr, dass sie uns lieber zum Sterben ins All schießen wollen?«

»Sie haben Angst vor euch«, sagt EM leise. Ich frage mich, ob ich mir eine intensivere Reaktion auf die Abschiebung wünsche, obwohl der Schmerz verschwendet wäre. »Sie haben Angst, dass ihr mit unserem Planeten dasselbe macht wie mit eurem. Euch macht vieles aus, was sie hier nicht wollen: Religionen, Wirtschaftssysteme, der Anspruch auf die Natur. Ihr teilt eure Welt in zwei Geschlechter auf und wir haben nicht einmal Namen dafür. Es gibt viel, das ihnen Unbehagen bereitet.«
Ich schüttele den Kopf. »Wenn sie uns ausschließen, sind sie nicht besser als wir.«
»Kein bisschen«, pflichtet sie mir bei und legt ihre Hand um meinen Nacken. »Aber–«
Laute Schritte zerreißen das Gespräch jäh in der Luft. Noch bevor ich reagieren kann, ist EM verschwunden. Menschen dürfen sich innerhalb der Lager bewegen, aber Einheimische haben sich von den Geflüchteten fernzuhalten. Würde sie gefunden, würde ich sie nie wiedersehen. Der Gedanke zerrt und reißt in meinem Brustkorb und bahnt sich seinen Weg in meinen krampfenden Magen. Mit rasendem Herzen und der Lunge voll angestauter Luft höre ich, wie sich die Schritte wieder entfernen. Irgendwo in der anderen Richtung bleibt der Horizont still und dunkel, wo EM verschwunden ist.

Obwohl die Tage hier nicht nur gefühlt, sondern auch rechnerisch langsamer vergehen als auf der Erde, kommt die Nacht des Abschieds viel zu schnell. Weil niemand schläft, kann ich mich nicht hinausschleichen. Selbst wenn ich es täte, wären zu viele Menschen unterwegs, ihre Vorräte aufzustocken, Gebete zu sagen oder Aufstände zu planen, als dass ich EM unbemerkt treffen könnte. Die Verzweiflung treibt mich in sämtliche Ecken des Camps, wo sie sich verstecken könnte. Ich kann nicht gehen und sterben, ohne mich verabschiedet zu haben. Doch die Zeit läuft aus. Meine Eingeweide werden ausgewrungen und auf den Müllberg geworfen. Vor dem Eingang der Kapsel haftet mein Blick nochmal an jedem Schatten. Angst kriecht meine Kehle hinauf. Ich werde sie nie wiedersehen.
»Was ist los?«, fragt Tom, mein Bruder, als ich eintrete. Er soll mich nicht weinen sehen. Wenn ich es zulasse, würde ich zu schreien anfangen. Ich zucke mit den Schultern und lasse sie in dem Moment fallen, in dem die Tür unserer Kapsel aufgestoßen wird. Tom schreit auf, ich ziehe ihn reflexartig an mich, bereit, aus wem-auch-immer Origami zu falten. Mein Mund steht offen und EM im Türrahmen.
»Kommt«, bedeutet sie uns hastig. Ich gebe Tom ein Zeichen, dass wir ihr vertrauen können, und folge ihm hinaus, ohne zurückzusehen. Aus allen Winkeln des Lagers kommen Menschen wie Ameisen herausgeströmt, die Geräusche sind gedämpft und hektisch.
»Was passiert hier?«, frage ich EM im Laufen.
»Wir bringen euch in ein neues Lager. Eins, von dem die Regierung nichts weiß. Bis wir genug Freiwillige gefunden haben, um euch in privaten Kuppeln unterzubringen.« Sie greift meine Hand. »Hast du wirklich gedacht, ich würde euch einfach zurück ins All pusten lassen?«

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Die Über All Lesung

Lasst euch von sieben der Preisträger:innen des Wettbewerbs Über All in ferne Welten entführen

Die Über All-Preisträger:innen

Vielen Dank an alle Teilnehmenden für diese spannenden Exkursionen ins All und herzlichen Glückwunsch den Preisträger:innen

Die Über All Jury

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Preise - Das gibt es zu gewinnen!

Schirmherrin Dr. Suzanna Randall

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