Zwischen den Sternen

Wettbewerbsbeitrag von Nici, 22 Jahre

Ich ziehe den Vorhang beiseite und öffne mein Fenster. Ich sehe hinaus. Mein tägliches Ritual. Ich lasse meinen Blick nach oben schweifen und mein rechtes Bein an der Fensterbank hinunter baumeln. Aus der Hoffnung, die in den letzten Wochen in den Sternen lag, formt sich nun eine so bedrückende Schwere, dass ich für jeden Atemzug Kraft aufwenden muss. Kraft, die ich doch gar nicht mehr habe. Ich kenne den Himmel über mir in- und auswendig. Jedes noch so kleine Funkeln und Flimmern ist mir vertraut. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als einmal im All zu sein, zwischen all diesen Sternen. Die Chancen auf eine Karriere bei der NASA stehen realistisch gesehen aber genauso gut wie die Wahrscheinlichkeit, morgen Milliardärin zu sein und mir damit eine Reise ins All zu ermöglichen. Heute ist aber noch etwas anders. Ich kann nicht genau sagen, was es ist. Es scheint als, ob die Sterne nicht so leuchten wie sonst - so komisch sich das auch anhört. Als ob manche Sterne irgendwie heller leuchten als sonst. Und als ob diese Sterne gestern noch nicht da waren - was sich noch komischer anhört.
Ich erkenne die Formation, die die vermeintlich neuen leuchtenden Punkte am Himmel ergeben und zweifle langsam an meinem Verstand. Es sind Tariks Sommersprossen. Es „waren“ Tariks Sommersprossen, aber die Vergangenheitsform hört sich für mich so surreal an. Tarik ist tot. Wenn ich morgen aufstehe, wird er nicht mit einer duftenden Tüte Croissants meiner Lieblingsbäckerei vor meinem Haus auf mich warten, um vor der Uni mit mir zu frühstücken. Ich werde auch nie mehr mit meinem Zeigefinger seine Sommersprossen abfahren und daraus immer und immer wieder das gleiche Sternenbild formen können. Es ist, als ob mir nun am Himmel Tariks Sommersprossen entgegenblitzen würden, so wie es sonst seine grünen Augen getan haben. Ich bin überzeugt, dass ich mir das gerade nur einbilde und starre so angestrengt in den Himmel, bis alles um mich herum zu verschwimmen scheint.

Ich versinke in einem Meer voller Sterne. Es sind noch viel mehr, als ich mir erträumen konnte. Zwischen vielen kleineren Lichtern erkenne ich nun immer mehr leuchtende Silhouetten. Ich traue mich meinen Augen eigentlich gar nicht mehr zu trauen, aber dort vor mir steht ein großer Wagen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen DER große Wagen. Ich verlängere die Strecke der hinteren beiden Sterne des Wagenkastens circa fünfmal nach rechts, wie ich es sonst von meiner Fensterbank mache. Und tatsächlich können meine Augen dort einen besonders hellen Stern erkennen, den Polarstern und Hauptstern im kleinen Wagen. Doch heute gibt es Sterne, die ihm an Helligkeit Konkurrenz machen. Tariks Sommersprossen. In Tariks Gesicht. Er sitzt dort im Schneidersitz im kleinen Wagen und lächelt mich an. Ab jetzt ist es mir egal, ob das hier gerade alles Sinn macht, ob andere mich für verrückt erklären würden – ob ich mich selber für verrückt halte. Es gibt noch so viel Unbekanntes im Universum. Im Vergleich zur Unendlichkeit des Alls, ist unser Wissen so überschaubar, was ist da schon unmöglich? Es ist eine sternenklare Augustnacht, und die Perseiden wirken um mich wie goldener Regen. So in mitten der Sterne wird aus zartem Nieselregen aber schubweise auch schnell Starkregen. Ich kann Tarik nicht mehr sehen und verliere etwas die Orientierung. An mir vorbei schießt ein Pfeil und ich zucke zusammen. Im schwächer werdenden Regen sehe ich noch den Schützen schwer schnaufend dem unkontrollierten Flugobjekt hinterher rennen, die Panik ist ihm ins Gesicht geschrieben. Er schafft es gerade noch rechtzeitig den Pfeil zu greifen, bevor er den grazilen Schwan trifft, der nur empört schaut und sich dann wieder auf das schöne Spiel der Leier konzentriert.

Ich will näher zu Tarik, aber muss feststellen, dass die Entfernungen hier oben doch weiter sind als sie scheinen und ich nicht so schnell vorankomme wie ich will-  wobei es da nur mir so zu gehen scheint. Ich blicke mich suchend um, fest davon überzeugt zu Tarik zu gelangen. Da! Ich erkenne den Stern Atair auf dem Schnabel eines Adlers, direkt aus der Richtung von Tarik auf mich zukommen. Vielleicht hat er ihn geschickt. Ich passe den perfekten Moment ab, um mich auf ihn zu schwingen und so fahre ich Taxi zwischen Sternen geradezu auf immer heller werdende Sommersprossen. Mit jedem Stern, den ich Tarik näher komme, werde ich zittriger und mein Magen dreht sich um. Tarik steigt aus dem kleinen Wagen und zeitgleich halten wir vor ihm an. Ich strecke meine Hand nach seiner aus, und ehe ich mich versehen kann, bin ich fest in seinen Armen. Es ist anders, ich spüre seine Wärme weniger außen an meinem Körper, sondern mehr in meinem Brustkorb. Ich mache die Augen wieder auf, und wir blicken uns tief in die Augen. Ich will etwas sagen, doch in meinem Kopf ist so ein Chaos, dass ich nicht weiß, was ich zuerst sagen soll. Tarik legt mir seinen Finger auf die Lippen, nimmt meine Hand und führt sie an seine Wange. Ich fahre mit meinem Zeigefinger seine Sommersprossen entlang. Jede einzelne, so bedachtsam wie noch nie.  Tränen kullern meine Wange hinunter, und ich will wieder etwas sagen, doch Tarik legt seine Lippen auf meine. Ich schließe meine Augen und will den Moment einfach festhalten. Nach einer viel zu kurzen Ewigkeit öffne ich meine Augen. Unter mir die Fensterbank und über mir im dunklen Himmel blitzen Tariks Sommersprossen im kleinen Wagen.

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Die Über All Lesung

Lasst euch von sieben der Preisträger:innen des Wettbewerbs Über All in ferne Welten entführen

Die Über All-Preisträger:innen

Vielen Dank an alle Teilnehmenden für diese spannenden Exkursionen ins All und herzlichen Glückwunsch den Preisträger:innen

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