Unlösbares lösbar machen

Wettbewerbsbeitrag von Eileen Dierner, 23 Jahre

„Jetzt nicht“, raune ich, als die Tür mit einem Piepsen aufschwingt und Schritte über den Metallboden federn. Ich hatte mir für meine Kabine Vinyl gewünscht, aber wir mussten aufbrechen, bevor die Lieferung eintreffen konnte.
„Du sollst mit mir Memory spielen.“ Die hohe Stimme veranlasst mich dazu, den Stift zu senken.
Mary ist eines der wenigen Kinder an Bord des Raumschiffs, die noch nicht an Nährstoffmangel gestorben sind. Trotzdem sieht sie ungesund aus, mit ihrer mageren Gestalt, der blassen Haut und den tiefen Augenringen.
„Mary …“
Ich würde gern mit ihr spielen, keine Frage. Bei ihrer Geburt habe ich mir geschworen, eine Tante zu sein, die für sie da ist.
„Bitte!“
„Frag jemand anderen. Ich muss arbeiten.“
Mary lässt den Kopf hängen. Das Memoryspiel hält sie fest umklammert, als wäre es ihr das Wichtigste auf der Welt.
In mir wächst der Zwiespalt. Ich könnte dem Whiteboard für fünf Minuten den Rücken kehren … aber diese fünf Minuten könnten den sicheren Tod für alle Reisenden bedeuten.
„Ich vermisse mein Zuhause.“ Ihre gewisperten Worte bringen mich dazu, meinen Zwiespalt für einen Moment zu vergessen. „Alles hier ist so … grau. Ich will meine Freunde. Ich will wieder in die Schule gehen.“
„Ich weiß.“ Seufzend reibe ich mir über die Stirn. Der Nährstoffmangel macht auch mir zu schaffen; ich kann mich kaum eine Stunde durchgängig konzentrieren. „Das wollen wir alle.“
Ein unsicheres Lächeln huscht über ihr Gesicht. „In die Schule gehen?“
„Normalität.“ Ich zögere, dann winke ich sie zu mir. Sie klettert auf meinen Drehstuhl und blickt neugierig zu mir auf. „Ich weiß, dass gerade alles blöd ist. Aber ich arbeite daran, dass das nicht mehr so ist. Siehst du diese Formeln?“ Ich weise auf das Whiteboard, das für Mary vermutlich eine wirre Aneinanderreihung von Zeichen abbildet. „Die werden uns retten.“
„Und wann?“ Ihre Augen leuchten auf. „Morgen schon?“
„Nein, nicht morgen. Und … wahrscheinlich nicht übermorgen. Die gängige Vorstellung von Realität zu widerlegen, ist einfach. Eine einzige Beobachtung reicht dafür aus. Aber eine Erklärung für diese neue Realität zu finden, ist eine Herausforderung, besonders unter Zeitdruck.“
Mary sieht mich mit offenem Mund an, ihr Gesicht voller Fragezeichen. Ich suche nach einfacheren Worten, nach kindgerechten, aber für das, was ich untersuche, gibt es noch keine einfachen Worte. Dafür fehlt selbst Erwachsenen das Verständnis.
„Lange Zeit nahm man an, dass die Welt im Kleinen genauso funktioniere wie die Welt im Großen. Dann stellte sich heraus, dass das nicht so ist. Die Welt im Kleinen ist total unsinnig. Ein Elektron kann durch zwei Öffnungen gleichzeitig fallen, obwohl es sich nur eine aussuchen dürfte. Klingt das für dich logisch?“
Mit derselben Hilflosigkeit wie eben schüttelte Mary den Kopf.
„Wenn wir verstehen, wie die Welt im Kleinen die Gesetze unserer Physik brechen kann, können wir das auch. Dann können wir das Raumschiff so umbauen, dass es uns aus unserem Sonnensystem rausbringt. Dann würden wir in Nullkommanichts auf einem bewohnbaren Planeten sein, du könntest zur Schule gehen und hättest genug zu essen.“ 
Mary sieht aus, als würde sie einen großen Kloß in ihrem Hals hinunterschlucken. „Ich habe Mama heute Nacht weinen gehört.“
„Ach ja?“ Das alarmiert mich. Zara ist die zuversichtlichste Person, die ich kenne.
„Und heute morgen hat sie telefoniert und die ganze Zeit geflucht.“
„Weißt du, mit wem sie gesprochen hat?“
„Jemand von der Arbeit.“
Mein Blick schweift zu dem einzigen Bullauge in der Kabine, das ich, so gut es geht, meide. Es ist eine stetige Erinnerung an unsere Deadline. Unter Zeitdruck protestiert mein Gehirn gegen jegliche Art von Fortschritt, weshalb ich meistens so tue, als sei alles in Ordnung. Zumindest in meiner Kabine klappt das, aber spätestens in der Kantine kann ich mich vor Warnzeichen nicht mehr retten. Die knappe Nahrung und die Mangelerscheinungen sind nicht das Einzige, was unsere Krise ausmacht. Es ist auch die Wut und die Angst in den Gesichtern meiner Mitreisenden, die Handgreiflichkeiten, die von Tag zu Tag zunehmen. Deshalb verlasse ich so selten wie möglich meine Kabine und habe Zara gebeten, mir keine Updates mehr zu schicken. Ich weiß auch so, dass ich so schnell wie möglich den Durchbruch erzielen muss, am besten gestern. Aber wenn Zaras Sorgen mit ihrer Arbeit zusammenhängen, dann ist es vielleicht so weit und eines der Alptraumszenarien ist eingetroffen: Die Lebensmittelvorräte sind aufgebraucht, verdorben oder gestohlen worden. Um ehrlich zu sein, will ich es gar nicht wissen.
Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder dem Mädchen zu, für dessen Zukunft ich verantwortlich bin. „Du musst jetzt wirklich gehen, tut mir leid.“
„Nein!“ In ihren Augen stehen Tränen. Das eigenartige Verhalten ihrer Mutter macht ihr wohl mehr zu schaffen, als sie zugibt. „Ich will zurück auf die Erde. Warum kehren wir nicht einfach um, dann wäre alles wieder gut.“
Vorsichtig strich ich ihr über das Haar, unsicher, wie ich sie trösten soll. „Auf der Erde würde es uns schlechter gehen als hier.“
„Das sagen alle, aber das kann ich nicht glauben.“
„Dann musst du mir vertrauen. Auf der Erde ist einiges nicht nach Plan gelaufen. Eigentlich hätten wir mehr Zeit haben sollen, dann hätten wir das Quantenproblem schon gelöst oder zumindest Mars terrageformt. Aber einige Menschen haben einige ziemlich blöde Dinge getan … und jetzt sind wir hier.“
Sie umarmt mich. „Bitte mach alles wieder gut.“
Ich nicke, aber die Worte dafür kriege ich nicht raus. Mit gesenktem Kopf atme ich den Geruch ihrer Haare ein, versuche mir in Erinnerung zu rufen, wie sie als Neugeborene gerochen hat. Seit damals hat sich die ganze Welt verändert, und es wäre oft leichter gewesen, es meinen Mitmenschen gleichzutun und aufzugeben. Aber Mary bringt mich immer auf den Boden der Tatsachen zurück. Ich werde die Quantenmechanik verstehen, die Regeln auf unser Raumschiff übertragen und das Universum bereisen. Für wen, wenn nicht für sie? 

Alle Infos

Die Über All Lesung

Lasst euch von sieben der Preisträger:innen des Wettbewerbs Über All in ferne Welten entführen

Die Über All-Preisträger:innen

Vielen Dank an alle Teilnehmenden für diese spannenden Exkursionen ins All und herzlichen Glückwunsch den Preisträger:innen

Die Über All Jury

Teilnahmebedingungen

Preise - Das gibt es zu gewinnen!

Schirmherrin Dr. Suzanna Randall

EINSENDUNGEN

Autorin / Autor: Eileen Dierner