Ein erster Keim

Wettbewerbsbeitrag von Jana, 23 Jahre

Dr. Grace Shaw war tief in Gedanken versunken, als sie in ihrem Schutzanzug die eiskalte Quarantänestation betrat. Der Rest der Crew war soweit gesund, putzmunter und langweilte sich dementsprechend in ihrer eigenen Krankenhaft. Nur Mark Wilson lag ohnmächtig vor ihr auf dem Bett, verkabelt und durchstochen von Sonden und Schläuchen, die seinen Zustand aufs Genaueste überwachten. Sie stemmte die Fäuste in die Hüfte, während sie den kleinen, blassen Mann vor sich musterte. Er war Teilnehmer an der Erkundungsexpedition auf Taurus 22-21 gewesen. Seine Kollegen beschrieben den Unfallablauf wie folgt: Bei einer Wanderung über die dschungelähnliche Oberfläche des Planeten ist er gestolpert und gestürzt. Dabei hat er sich seinen Raumanzug und die Hand aufgeschlitzt. Mehr schien ihm nicht passiert zu sein. Er wurde notdürftig verarztet und zügig auf das Schiff zurückgebracht. Die ersten Tage stellte sich keine Veränderung seines Zustandes ein, dann wurde er plötzlich ohnmächtig und wachte seitdem nicht mehr auf. Zur Untersuchung wurde er nun in die Krankenstation Nightingale, 456 Kilometer über dem Mars, gleich in ihre Arme gebracht. Seine Werte waren seitdem stabil, und es ließ sie nicht schlafen, dass er trotzdem nicht bei Bewusstsein war.

Plötzlich piepte der Computer einmal. Grace hob den Kopf, aber sah auf den Bildschirmen nichts, was Ausschlag für den Warnton gegeben hätte. Als sie den Kopf wieder senken wollte, um ihren Theorien nachzugehen, veränderten sich plötzlich die Zahlen. Die Werte fielen - und das dramatisch - in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Der Computer machte sich keine Mühe, dieses Geschehen zu kommentieren und blieb den ganzen Prozess über still. Auch als plötzlich alle Werte von den Bildschirmen verschwanden, gab er keinen Ton mehr von sich. Grace starrte auf ihren Patienten, der weiterhin unverändert vor ihr lag. Sie betätigte den Rufknopf neben seinem Bett und hoffte darauf, dass schon jemand den Schutzanzug in Reichweite hatte. Dann griff sie nach seinem Puls. Durch die dicken Handschuhe war er nicht sehr gut spürbar, aber stark und regelmäßig genug, um zu folgendem Urteil zu kommen: unterdurchschnittlich, aber noch nicht lebensbedrohlich. Grace zog die Augenbrauen zusammen. Automatisch spielte sie das volle Programm an Tests ab, so wie sie es in jeder anderen ähnlichen Situation auch getan hätte. Erst jetzt stürmten weitere Pfleger in den Raum. Einer von ihnen war etwas überambitioniert und überschätzte die Bodenhaftung seiner Schuhüberzieher. Er konnte sich gerade noch am Bettgestell festhalten, berührte aber trotzdem noch das Kabel des invasiven Blutdruckmessgerätes. Der Computer schrie auf mit einem kurzen, schrillen “Piep”. Über den Bildschirmen flackerten wilde, unrealistische Werte auf. Das Kabel schwang noch ein bisschen weiter, aber der Computer hatte sich wieder beruhigt und tat nichts mehr. Die Mediziner wechselten einen Blick durch die Visiere. Grace beugte sich über den Patienten und stieß mit dem Finger erneut gegen das Kabel. Wieder schrillte alles auf und beruhigte sich genauso schnell wieder. Wieder wurden Blicke ausgetauscht.

“Ruft mal unten bei Casey an”, sagte Grace ruhig. “Fragt sie, ob das einfach nur ein Wackelkontakt sein könnte.”

Als Casey hinter der Maschine wieder zum Vorschein kam, konnte Grace ihr irritiertes Gesicht auch durch den Schutzhelm gut erkennen. “Warum muss ich das Ding nochmal hier drin überprüfen?”

“Wir wollten ihn noch nicht von der Maschine trennen, bevor wir nicht wissen, was mit ihr los ist.” Obwohl das Visier recht klein war, konnte Grace spüren, wie Casey eine Augenbraue hochzog. Die Ärztin seufzte. “Wir wollten nicht noch ein anderes Gerät kontaminieren.”

Aus der Stille schlussfolgerte sie, dass die Technikerin die zweite Braue hochgezogen hatte.

“Das hat der Chef zu mir gesagt.”

Casey verdrehte die Augen. “Ich liebe es, in diesem Kühlschrank zu arbeiten. Auf die Schnelle habe ich jetzt keinen Fehler in der Hardware gefunden. Das System scheint auch normal zu laufen. Mir fällt kein Grund ein, warum er sich so komisch verhält.”

“Dann haben wir keine Wahl und müssen einen anderen holen. Du kannst den Computer weiter untersuchen, wenn er die Quarantäne überstanden hat.”
Casey legte den kleinen Schraubendreher zurück an seinen Platz in ihrem Werkzeugkasten. "Wenigstens kann ihm mein Werkzeug Gesellschaft leisten."

Grace schüttelte den Kopf bei der Bemerkung und fing an, die Geräte von den Schläuchen zu lösen. Dabei fing der Computer wieder an, wie wild und in sehr kurzen Abständen vor sich hin zu piepen. Casey schaute recht verdutzt, aber Grace stoppte nicht, bis sie bei dem kleinen Arterienzugang angekommen war. Nachdem sie seinen Ärmel hochgeschoben und die Mullbinde abgenommen hatte, beugte sich sich etwas herunter, um das dünne Röhrchen besser zu begutachten. Die Kochsalzlösung war dunkelgrün, gerade am unteren Ende, in der Nähe des Katheters. Sie schaute noch genauer hin. Da war etwas im Schlauch, aber sie konnte es nicht genau erkennen, noch nicht.

Vor Schreck ließ sie den Schlauch fallen und wieder fing der Computer an zu schreien.

Casey ging um das elektronische Monster herum und stellte sich hinter die Ärztin, um einen Blick auf den Patienten zu erhaschen. "Was ist los? Soll ich eine Schwester rufen?"

Doch dann erstarrte auch Casey für einen kurzen Augenblick. Sie beugte sich weiter vor, um wirklich sicher zu gehen, dass es auch das war, was sie glaubte zu sehen: kleine Blätter. Da, wo das Röhrchen in den Katheter übergeht, quollen kleine, grüne Blätter hervor. Der Stängel der Pflanze kroch aus der Arterie in den Schlauch hoch bis zum Sensor, der am Kopfende hing. Sie streckte die Hand aus und fuhr, ganz langsam, mit dem Finger über das Größte der Blätter. In dem Moment, in dem sie dies tat, fing der Computer wieder an, schnell aufeinanderfolgende Töne von sich zu geben. Je länger sie jedoch das Blatt streichelte, desto länger wurden die Abstände zwischen den Piepsern. Die Technikerin schluckte einmal kräftig und flüsterte dann mehr zu sich selbst als zu Grace: "Mein Gott, das Ding kann kommunizieren."

Die Ärztin drehte sich um. "Das kann doch nicht dein Ernst sein!"

Casey schaute noch einmal auf die leuchtend grünen Blätter, dann zurück zu Grace. "Ich rufe keine Schwester, ich rufe lieber einen Botaniker."

Alle Infos

Die Über All Lesung

Lasst euch von sieben der Preisträger:innen des Wettbewerbs Über All in ferne Welten entführen

Die Über All-Preisträger:innen

Vielen Dank an alle Teilnehmenden für diese spannenden Exkursionen ins All und herzlichen Glückwunsch den Preisträger:innen

Die Über All Jury

Teilnahmebedingungen

Preise - Das gibt es zu gewinnen!

Schirmherrin Dr. Suzanna Randall

EINSENDUNGEN

Autorin / Autor: Jana