Ein eiserner Planet voller Heimlichkeiten

Wettbewerbsbeitrag von Rojan Najafi, 26 Jahre

Die Wiese war für die Raben der Ort ihres Vertrauens. Sie hüteten den Ort, denn er ließ sie auf Erden Zuhause fühlen. Auch Ens hatte diese Wiese in ihr Herz geschlossen. Seit dem Tod ihres Bruders kam sie täglich zu dieser Wiese, um den Raben bei ihrem Gesang zu zuhören. Jedes Mal, wenn das Mädchen auf die Wiese rannte, sangen die Raben stundenlang und ohne Unterbrechung. Die Töne überschlugen sich und verzückten den Verstand des Mädchens.

Rabenaugen starrten Ens an. Doch das kleine Mädchen bemerkte nichts davon, denn sie hatte sich in den Verstand eines Rabens genistet. Während das Mädchen dies unbewusst vollstreckte, hatte der Rabe seinen Verstand bewusst mit dem des kleinen Mädchens geteilt. Ens Körper lag bewegungslos auf der Wiese und wirkte als würde sie schlafen, doch in Wirklichkeit flog sie durch die Luft. Da Ens nur wenig Erfahrung mit der Realität gemacht hatte und ihr Verstand so einiges Verwunderliche als normal abstempelte, fragte sie nicht weiter nach. Ihre Gedanken flogen in die Weite des Universums und ließen sie allein. Der Wind führte sie sanft durch die Tiefen der Dunkelheit. Sie war umgeben von Nichtigkeit, einem Gefühl des Auflösens. Es müssen Stunden vergangen sein, in denen sie weiter in Richtung Sterne flog. Der Wind wisperte dort oben nicht mehr, er schrie. Es waren Worte voller Ausdruck und Bewegung. Sie spürte einen großen WUMS. Sie drehte sich ein paar mal, drehte und verlor das Empfinden für ihren Körper. Als sie wieder zu sich kam, lag eine Stille in der Luft. Die Wolkenschicht über ihr wurde von drei Monden durchbrochen und ermöglichte ihr, die Silhouetten eines Waldes zu erfassen. Im Hintergrund ging die Sonne langsam auf. Ein leuchtendes Glitzern schmückte den Boden. Bevor sie zu denken anfangen konnte, flog der Rabe näher an den Boden ran. Sie nahm knochige Baumkronen und skelettartige Pflanzen wahr. Der Boden war weiß und mit Eiskristallen bedeckt. Etwas explodierte laut im Hintergrund. Sie schreckte hoch und sah eine Welle von Eis über den Boden fließen. Flüssiges Eis, das sobald es stehen blieb, einfror. Ens erkannte am Horizont den riesigen Vulkan, der flüssiges Eis frei ließ und den Boden mit Kristallen schmückte. Die Sicht war überwältigend und mit jedem Kristall, den das Rabenmädchen wahrnahm, vergaß sie einen weiteren Teil ihrer Persönlichkeit ENS.

Sie düste auf einen Hügel zu, der einen Höhleneingang offenbahrte. Es war die Tür hin zu einer Zivilisation von Geschöpfen, die etwas Menschliches an sich hatten und doch fremd wirkten. Einige von ihnen hatten zwei Beine, einen Kopf aus ballonartigem Material, Skorpionköpfe mit roten Stacheln oder riesige Gesichter mit einem Körper aus langen Fäden, die in die Luft ragten. Es waren so viele Menschen, dass das Rabenmädchen kaum hinterher kam. Alle befanden sich in der Höhle, die hunderte Meter hoch war. Eiskristalle hingen von den hohen Decken runter. Aus der Ferne hörte sie den Gesang ihrer Rabenfreunde. Der Gesang wurde von dem eisernden Wind begleitet. Der Rabe lenkte in die Richtung der Musik. Ens erinnerte sich für einen kurzen Moment an ihren verstorbenen Bruder, der ein Windinstrument gespielt hatte. Doch der Gedanke verflog schnell und somit auch ein weiterer Teil von Ens. Das Rabenmädchen sah die Höhlenwände und die Geschöpfe, die hart daran arbeiteten. Einige brachen die Eiskristalle von den Wänden und andere schleppten sie fort. Alle wirkten beschäftigt. Sie erreichten die Musik und landeten neben dem singenden Raben. Die Melodie des Gesanges glitt in das Ohr des Rabenmädchens und formte sich in Worte um.
“Willkommen auf dem Eisernen Planeten der Mysterien”, sang der Rabe.

“Der Planet ist voller Heimlichkeiten und gibt jedem die Chance vom Neuen anzufangen und die Rätsel vorheriger Leben an die Oberfläche zu bringen. An diesem Ort herrscht die Macht der Geheimnisse. Je weniger sich die Kreaturen mit den unausgesprochenen Rätseln ihres Unbehagens auseinandersetzen, desto länger bleiben sie hier. Das Leben auf dem Eisplaneten wird erst vollendet, wenn alle Geheimnisse der vergangenen Existenz offenbart wurden. Es kann Jahrhunderte dauern bis einige das Rätsel ihres Lebens und Leidens lösen. Aber verstehe mich nicht falsch. Keiner dieser Geschöpfe weiß von einem Leben außerhalb dieses Planeten. Wenn du nach unten schaust, siehst du all diese Wesen hart arbeiten. Sie sehen ihr Leben als einmalig an. Um sich selbst besser kennenzulernen, herrscht hier komplette Stille. So kann jeder der Geschöpfe in die Tiefe ihres Seins reisen." Der Rabe hörte auf zu singen und für eine kleine Ewigkeit war nur das Hämmern der arbeitenden Einwohner zu hören. Als der Rabe fortfuhr, durchbrach er den rhythmischen Takt und die begleitende Stille mit seinem Gesang. “Wir, die Rabengilde, sind anders. Unser Zuhause liegt im nirgendwo. Wir haben unsere Identität abgelegt und finden somit Eintritt in alle Welten. Auf der Erde singen wir Lieder für Sterbende und begleiten sie auf ihre Reise hin zu diesem Planeten. Wir sind die Hüter des Todes.”

Sie starrten sich für einen Moment tief in die Augen, als der singende Rabe seine Flügel schwang und sich von ihr entfernte. In ihrem Kopf hörte sie eine leise Stimme singen: “Von Zeit zu Zeit gehen einige der Gilde von uns. Sie haben ihre Rolle als Hüter erfüllt und verschmelzen mit dem kosmischen Auge der Unendlichkeit. Immer dann sind wir auf der Suche nach neuen Hütern des Todes. Du kannst ein Teil von unserer Gilde werden. Doch musst du dein altes Leben und somit das Konstrukt ENS für immer ablegen. Du hast diesen Moment, um dich zu entscheiden, in welche Richtung du fliegen möchtest. Richtung Erde in deinen menschlichen Körper oder zum eisernen Kern um der Gilde beizutreten. Entscheide dich jetzt!” Die Stimme verlosch.
Das Rabenmädchen dachte keine Sekunde nach. Macht und Ohnmacht hallte es in der Luft wieder, als sie ihre Flügel schwang und die Erinnerung an Ens für immer verschwand.

Alle Infos

Die Über All Lesung

Lasst euch von sieben der Preisträger:innen des Wettbewerbs Über All in ferne Welten entführen

Die Über All-Preisträger:innen

Vielen Dank an alle Teilnehmenden für diese spannenden Exkursionen ins All und herzlichen Glückwunsch den Preisträger:innen

Die Über All Jury

Teilnahmebedingungen

Preise - Das gibt es zu gewinnen!

Schirmherrin Dr. Suzanna Randall

EINSENDUNGEN

Autorin / Autor: Rojan Najafi