Sarah’s letzter Arbeitstag

Wettbewerbsbeitrag von Christopher Maurice Reif, 24 Jahre

„Sag mal Peter, weißt du, was das ist?“
Vor Sarah befindet sich ein Augapfel.

Angeleuchtet durch ihre Scheinwerfer wirkt er mehr wie eine große Weihnachtskugel und fehl zwischen all diesen Stahlfetzen und Trümmerteilen. Und nun mal wie ein Augapfel, mitten zwischen Erdumlaufbahn und der Unendlichkeit des Kosmos ewig auf der Suche nach einer Mitfahrgelegenheit.

„Keine Ahnung, du musst näher ran.“

Sarah drückt die Schaltung leicht nach vorn. Ein leichter Schub, sonst würde sie vorbeifliegen und erneut einlenken müssen. Heute, an ihrem letzten Tag ihres freiwilligen astronomischen Jahres, wollte sie einen sauberen Abgang machen. Ihre Quote noch ein wenig nach oben drücken. Immerhin bekommt sie dafür eine entsprechende Auszahlung.

„Eis wird’s schlecht sein, oder?“
„Vermundlich n‘ Sonde oder Satellit. Wir werden’s gleich wissen.“

Auf der gerade dunklen Seite der Erde wirken die Jupiterscheinwerfer wie verirrte Strahlen der Sonne, weit weg von ihrer Heimat. Der Augapfel gewinnt an Größe und Kontur.

„Ist das von uns?“
„Von uns datiert schon länger. Aber wer weiß, wie lange es bereits um die Erde eiert. Vielleicht eine Kapsel voller schlafender Beserkeraliens, die uns nach Strich und Faden ausrotten. Wenn sie uns nicht versklaven wollen.“
„Du ließt zu viel von diesem Sci-Fi-Kram.“

Die geknechteten Sonnenstrahlen treffen auf etwas Rötliches auf der Oberfläche des Augapfels.

„Ich mein ja nur. So ein Ding kann schon ewig unterwegs sein und dann, dann taucht’s auf einmal auf: zack, bumm, peng, Schuss, Schluss, aus, vorbei; n‘ beschissenes Abkratzen für dich. Immerhin wärst du die erste. Falls ich überlebe, verlinke ich dich im Wikipedia-Artikel.“
„Halt die Klappe und mach einfach deinen Job, Peter.“

Aus dem Augapfel wird etwas Menschengemachtes. Die Schweißnähte zeichnen sich auf der verwüsteten Hülle wie Narben anatomischer Eingriffe ab. Deutlich sind Buchstaben zu erkennen. CCCP.

„Sag mal, Klugscheißer, für was steht CCCP?“
„Das ist kyrillisch und steht für Sowjetunion. Wird wohl n‘ alter Kosmos sein.“
„Also doch ein Satellit?“
„Ja. Wundert mich, dass er durch die ganzen Trümmer ganz geblieben ist.“

Der Augapfel jener untergegangenen Supermacht schwimmt wie viel zu viele Teile um die Erdumlaufbahn.

„Ich würd ihn bergen wollen. Sofern er zerbricht, hat der nächste die doppelte Arbeit. Außerdem freut sich die Recycling-Station immer über Edelmetalle.“
„Äußerst selbstlos von dir. Bekommst zuhause n‘ Verdienstorden von mir.“
„Und du einen Arschtritt, sofern wir unsere Urkunden überreicht bekommen.“

Während Sarah sich auf Bergungsnähe begibt, ist nun auch die Flagge zu sehen: Sichel und Hammer auf rotem Grund. Hier draußen wirkt diese wie das Zeugnis einer untergegangenen Spezies und sie wie ihre Leichenfledderer.

„Wirkt archaisch, findest du nicht?“
„Hat gereicht, um hier oben sich die Zeit zu vertreiben.“

Sarah drückt auf einem der Knöpfe ihrer Armatur. Die Luken für die Schächte der Arbeiterdrohnen öffnen sich. Sie eröffnen ihren Tanz im Takt der kosmischen Melodie ihres Erschaffers um die Sonde herum und spannen das Netz zum Abtransport. Dadurch, dass es der einzige Fang war, konnte das Netz größere Maschen haben.

„Was ist das erste, was du machst, wenn du wieder unten bist?“
„Ich such mir n‘ Typen, dem ich gern beim quatschen zuhöre. Vielleicht wird’s auch ne Frau. Alles ist besser, als dir weiter zuzuhören.“

Durch die Sprechanlage ist Peters Lachen zu hören.

„Und du? Was wirst du machen?“
„Ich werd schwimmen gehen. So richtig mit Widerstand.“

Die Drohnen sind dabei, das Netz am Raumschiff anzubringen. Der Kosmos wirkt dabei wie ein Fisch, der auf einer Seerose gelandet ist, als er nach Luft schnappen wollte. Lautlos gleiten die Drohnen zurück in ihre Kammern, nachdem ihr Tanz zwischen den Trümmern beendet ist. Auf der Armatur leuchten grüne Lichter auf.

„Meinst du, ich sollte Lea fragen, ob wir ausgehen sollen?“
„Warum nicht? Verschon sie aber bitte mit Berserkerkapseln. Bedanken kannst du dich nach der Hochzeit.“

Sarah gibt den Kurs zur Recyclingstation ein und überlässt es dem Autopiloten, sie dorthin zu bringen.
Sie lehnt sich zurück und legt die Füße ab. Ihr Blick schaut hinab auf die Erde, auf der gerade Nacht ist. Hier und da wollte sie die großen Metropolen und ihr niemals erlöschendes Licht ausmachen, die auf den Kontinenten verteilt sind. Wie ein Korsett zog sich das Gerüst der Stahlträger des Orbitalringes um diese und muss von unten wohl einen merkwürdigen Anblick bieten. Unweigerlich muss Sarah an den Weltenzerstörer denken – doch waren sie Weltenbauer und der Orbitalring nichts Weiteres als die künstliche Dehnung des menschlichen Armes mit Fingerzeig zu den Sternen. Hier und da funkten die Schmiedefeuer der Konstruktionsroboter auf und die winzigen Punkte der Ingenieure flitzen über diese Makropole von Baustelle.

„Ist man einmal hier oben, ist man auf halber Höhe zu jedem Punkt der Erde, was? Ich hab noch eine Überraschung für dich. Errschreck dich nicht.“

Auf ihrer Konsole piept es. Fremdzugriff durch Zentrale.

„Peter, was wird das?“

Das Raumschiff saust für einen Moment nach oben. Das Cockpit ist über die Erde gerichtet und schaut in das Nichts.

„Drei, zwei, uuuuuuund eins!“
„Interstellar, willst du mich verarschen?“

Die Sonne beginnt für ein Teil der Erde aufzugehen. Sonnenstrahlen eroberten jene entfernte Nacht, die hier oben endlos ist. Wie ein aufgesetztes Diadem krönen sie den Tellerrand zwischen Himmel und Erde. Aus der Sprechanlage erklingt die 30. Operette von Also sprach Zarathustra.
Die Getränkeschublade öffnete sich. Eine Dose gekühltes Bier zwischen den Trinkflaschen. Peter muss sie während der Wartung hineingeschmuggelt haben.

„Fröhlich letzen stellaren Feierabend Sarah. Wir haben’s geschafft.“

Lächelnd griff sich Sarah das Bier.

Ja, sie haben es geschafft. Sie hatten ihr freiwilliges astronomisches Jahr beendet.

„Ja, wir haben es geschafft Peter. Ein fröhlichen letzten stellaren Feierabend.“

Alle Infos

Die Über All Lesung

Lasst euch von sieben der Preisträger:innen des Wettbewerbs Über All in ferne Welten entführen

Die Über All-Preisträger:innen

Vielen Dank an alle Teilnehmenden für diese spannenden Exkursionen ins All und herzlichen Glückwunsch den Preisträger:innen

Die Über All Jury

Teilnahmebedingungen

Preise - Das gibt es zu gewinnen!

Schirmherrin Dr. Suzanna Randall

EINSENDUNGEN

Autorin / Autor: Christopher Maurice Reif, 24 Jahre