„Ein Mädchen verdient immer Respekt!“

In Indien ist ein Mädchen immer eine Lady. Tina Groll hat sich in der Universitätsstadt Manipal unter jungen Indern und Inderinnen umgehört.

„Solange ich nicht verheiratet bin, bin ich voller Fehler. Man könnte sagen, ich habe keine Chance auf Vollkommenheit“, sagt Rohan (23). Rohan ist gläubiger Hindu. In seiner Religion ist jedes weibliche Geschöpf heilig. Der Student erklärt: „Frauen schenken Leben. Wir Männer sind dazu nicht in der Lage. Darum glauben wir Hindus, dass Frauen und alle weiblichen Wesen sehr viel Respekt verdienen. In unserer Kultur ist es eine Selbstverständlichkeit, ein Mädchen wie eine Lady zu behandeln.“ Darum hält Rohan einem Mädchen die Tür auf, hilft ihr in den Mantel, rückt ihr den Stuhl zurecht oder reicht ihr die Hand, wenn sie ins Auto einsteigt. „Wir Hindus sagen, dass erst, wenn man verheiratet ist, man ganz ist. Das heißt aber nicht, dass ich von meiner Freundin und späteren Frau erwarte, dass sie mich perfekt macht. Im Gegenteil: Wir Männer müssen uns mindestens viermal so sehr anstrengen. Es liegt an uns, die Beziehung perfekt zu machen. Egal wie sie sich aufführt, ein Mädchen verdient immer Respekt.“

Früher glaubte man, ein Mädchen bringe Unglück

Auch der 21-jährige Mitilesh meint, dass Mädchen Respekt verdienen. „Ich habe gehört, dass nur wenige Jungen in Deutschland Mädchen die Tür aufhalten. Sowas würde hier nicht passieren.“ Allerdings räumt der 21-jährige ein, dass Indien keinesweg ein Paradies für Mädchen ist. „Bis vor einigen Jahren kam es auf dem Land bei der sehr armen Bevölkerung sehr häufig dazu, dass Mädchen getötet wurden. Die armen Leute meinten, ein Mädchen bringe Unglück. Denn in Indien ist es nach wie vor häufig so, dass Mädchen keinen Beruf erlernen. Sie werden verheiratet und verlassen die Familie. Für eine arme Familie ist das ein echter Verlust. Denn meistens werden heute noch hohe Mitgiften gezahlt, um die Tochter zu verheiraten.“ Heute steht die Kindstötung unter hohen Strafen, unter denen die ganze Familie belangt werden kann. Mitilesh sagt: „Indien ist ein Land, in dem man Extreme findet. Auf der einen Seite betrachten wir Frauen als Ladys, auf der anderen Seite sind sie noch lange nicht gleichberechtigt.“

Der gute Ruf ist alles

„Als Mädchen muss man sich sehr bestimmt verhalten“, so die 20-jährige Lalita. „In der Schule und in der Uni trägt man keine tiefausgeschnittenen Kleider. Die meisten Mädchen tragen sowieso lieber die traditionellen Kleider wie einen Sari, weil das in der Hitze viel angenehmer ist. Wer Tiefausgeschnittenes trägt, gilt schnell als leichtes Mädchen und verliert seinen Ruf.“ Und dieser gute Ruf gilt viel - wenn ein Mädchen einen guten Ruf haben möchte, dann redet sie nur mit den Jungs, die sie aus ihrer Klasse kennt. „Wenn dich jemand in der Disco anspricht und sagt: Du tanzt aber gut – dann ist das hier in Indien kein Kompliment. Wir Mädchen nehmen das als Beleidigung und würden bestenfalls gar nichts darauf erwidern. Wir Inderinnen haben einen hohen Stolz und wenn ein Junge unser Herz erobern will, dann muss er sich schon anstrengen.“ Lalita erklärt lachend, dass aber nur die wenigsten Mädchen jungfräulich in die Ehe gingen. „Ich weiß nicht, wie es bei der armen Landbevölkerung ist. Aber wer sich ein Studium leisten kann, der genießt meist ein recht westliches Leben. Meine Freundinnen und ich haben alle einen Freund und auch Sex vor der Ehe. Aber diese Beziehungen bedeuten in unserer Kultur nicht viel. Unsere Eltern betrachten das sogar als Sittenverfall.“ Der, so die 20-Jährige, zeige sich auch darin, dass viele Mädchen nach dem Studium erst einmal einige Jahre arbeiten möchten, ehe sie heiraten, Kinder haben und ein Leben als Hausfrau führen. Lalita sagt: „Ehe muss aber sein. Eine Frau, die nicht verheiratet ist, wird in Indien als Lesbe angesehen. Und das ist hier nicht akzeptiert. Außerdem sind wir Inder und Inderinnen sehr romantisch. Wir sagen, erst die Ehe macht das Leben vollkommen. Warum also nicht heiraten?"

Einfach so zusammenleben? Niemals!

„Liebt ihr Deutschen euch denn, wenn ihr einfach so zusammen seid?“ fragt Rohan. Für den 23-jährigen Studenten ist die Vorstellung, mit einem Mädchen zusammen zu sein, vielleicht sogar zusammen zu wohnen ohne eine Heiratsabsicht zu haben, schwer zu akzeptieren. „Ich meine, wenn man sich liebt, dann kann man doch auch heiraten. Das ist doch eine Sicherheit und auch ein Zeichen von Verantwortung. Wenn man nicht heiratet, dann kann ja einer von beiden plötzlich gehen. Für mich käme so eine Beziehung nicht in Frage.“ Auch für Mitilesh ist eine Beziehung mit einem Mädchen nach westlicher Art schwer vorstellbar: „Ihr Deutschen seid mehrere Jahre mit einem Jungen oder einem Mädchen zusammen – ohne überhaupt die Absicht zu haben, zu heiraten? Das finde ich komisch. Wer in Indien im heiratsfähigen Alter ist und so lange mit einem Mädchen zusammen ist, der sollte es auch heiraten. Das verlangt doch der Respekt. Man sollte Verantwortung für die Liebe nehmen.“ Auch Lalita ist der Meinung, Heirat sollte sein. „Wenn ich einen Jungen wirklich liebe und meine Eltern ihn schätzen, sich unsere Familien gut verstehen, dann würde ich erwarten, dass er mir einen Antrag macht.“ Lachend fügt sie hinzu: „Ob ich den dann auch annehme – das ist ja eine andere Sache.“

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Autorin / Autor: Tina Groll; Bild: LizzyNet - Stand: 3. Februar 2006