Eisprinzessin  - Teil 6

von Janka Katharina Hardenacke

© Foto "Eisrose" von phlug; Quelle: photocase.de

Fluchtartig warf ich die Haustür hinter mir zu und ließ mich gegen sie fallen. Meine Brust hob und senkte sich, als ob ich einen Marathon gelaufen wäre, und mein Herz pochte. Ich hatte einen so wunderschönen Tag gehabt. Es war unglaublich gewesen. Seine eisblauen Auge, seine Stimme, das Gedicht...und jetzt? Mit meiner Hand knüllte ich das Papier zusammen. Ein weißes Papier. Ein Papier, auf dem in schlanken Buchstaben ein einziges Wort geschrieben stand. Das Wort „Schneeflocke“ in roter Tinte. Lehrertinte. Ein Bild stand mir vor Augen. Mein Direktor mit dem roten Stift. Ich versuchte mich mit Fernsehen abzulenken. Doch weder Spongebob noch Das Familiengericht konnten das schaffen. Und auf einmal, wie durch einen dichten Nebelschleier, hörte ich ein Geräusch. Erst nach dem dritten Klingeln begriff ich, dass es unser Telefon war. Langsam stand ich auf, langsam schlich ich unseren Flur entlang. Eine flüsternde Stimme erzählte mir, was geschehen war. Ich schüttelte den Kopf! Nein! Nein, das war unmöglich! Eben hatte er doch noch....eben war doch! Nein! Oh nein, bitte nicht! Ich schrie, ließ mich fallen. Niemand fing mich auf. Er fing mich nicht auf. Er konnte mich nie wieder auffangen. Denn er war tot. Nathan war tot.

Als meine Mutter nach Hause kam, fand sie ein kleines zitterndes Bündel in der Diele. Sie brachte es zu Bett und erfuhr erst viel später, was geschehen war! In den nächsten Tagen ging ich nicht zur Schule. Ich brachte es einfach nicht fertig. Einen Tag nach Nathans Tod kam ein Polizist zu uns und erzählte mir, dass Nathan in Wald entdeckt worden war. Eine Joggerin und ihr Hund hatten ihn auf unserer Lichtung gefunden. Mit dem Gedicht in der Hand und einem Schnitt in der Brust. Auch ich hatte jetzt einen Schnitt, einen Riss im Herz!

Die Polizei tappte im Dunkeln, während ein Mörder frei herum lief. Ich fühlte unbändigen Hass auf diese Person, Hass, den ich nicht zügeln, doch genau so wenig freilassen konnte.

Am Samstagnachmittag war die Beerdigung. Zusammen mit meiner Mutter und vielen anderen Leuten, darunter Lehrer und Schüler meiner Schule, saß ich in der kleinen Friedhofskapelle. In der ersten Bank entdeckte ich Nathans Großvater, seine Eltern und einen jungen Mann, der sein Bruder sein musste. Die Ähnlichkeit sprang einem sofort ins Auge. Dieser Anblick war für mich kaum auszuhalten. Zusammengesunken saßen sie alle da, ein schweres Gewicht auf den Schultern tragend. Ich hielt das einfach nicht länger aus und stahl mich nach draußen. Hinter der Kapelle hockte ich, ganz in Gedanken vertieft, als eine Stimmer hinter mir sagte: „Hallo Elsa! Wie geht es dir?“ Ich schaute über meine Schulter. Dort stand Herr Gärtner im schwarzen Sakko. „Du und Nathan, ihr standet euch sehr nahe, nicht war?“ Ich wollte nicht darüber reden, schon gar nicht mit meinem Lehrer. Er schien zu verstehen. „Ich würde mich freuen, wenn du in den nächsten Tagen mal zu mir zu kommst. Ich hab da ein paar Sachen, ... Alte Hefte von ihm. Die letzte Arbeit. Ich glaub, da redet er von dir!“ Dann ließ er mich alleine. Ich saß noch lange auf dem Friedhof. So lange, bis ich die erste Schneeflocke in meinen Haaren spürte.

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Autorin / Autor: Janka Katharina Hardenacke - Stand: 9. Februar 2009