Das wunderliche Weihnachtsfest

Sie schreit mich an. Wie immer. Sie steckt sich eine Zigarette in den Mund, zündet sie sich an, geht aus dem Zimmer. Sie ist den Tränen nahe. Wie immer. Schweigen. Stille um mich herum. Es ist eine bedrückende Atmosphäre.

Überall ist alles voller Lametta. Firlefanz in gold, silbern, rot und blau. Überall Sterne. Weihnachtsschmuck. Jedes Haus ist geschmückt. Überall Lichter. Der Nachbar im Haus gegenüber zündet seine Kerzen am Tannenbaum an. Das erkenne ich von meinem Zimmer aus, weil er seine Gardinen nicht zugezogen hat. Dann packt er voller Spannung, voller Überraschung und voller Freude die Geschenke für seine Kinder unter den Baum. Es sind nur ein paar. Denn niemand hier in unserer Siedlung hat viel Geld übrig. Aber er lächelt. Seine Freude ist ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Neben ihm seine Frau. In einen braunen Pullover gekuschelt. Sie bewegt sich taktvoll, als würde sie zu einer Weihnachtsmusik tanzen. Vielleicht Mozart. Vielleicht Diana Krall. Ich kann es nicht hören, weil die Entfernung zu groß ist. Das deprimiert mich. Zu gerne wüsste ich, wie es ist. Ein richtig schöner Weihnachtsabend. Mit köstlichem Essen. Der tollen Atmosphäre mit Kuschelcharakter. Freude. Festliches. Die Familie. Vielleicht in Decken gekuschelt.

Doch in den letzten Jahren ging es bei uns nur bergab. Klar, das brauche ich gar nicht zu erwähnen. Das hat sicher jeder mitbekommen, der in diesem Land lebt. Ja, lebt. Kann man das noch Leben nennen? Das Leben. Was ist das eigentlich heutzutage noch wert? Um nachvollziehen zu können, was das Wort Leben überhaupt bedeuten kann, ist es möglicherweise sinnvoll, an die Anfänge des Lebens zu denken. Woraus bestehe ich? Woraus habe ich mich entwickelt? Was sind die Grundlagen des Menschen? Gibt es Pläne, nach denen wir erbaut wurden? Theorien. Gedanken. Entwicklung. Fortschritt. Ein winziges Teilchen, das wuchs. Die Welt. Vielfalt. Leben. Unzählige Mikroorganismen. Die sich sammelten und formten zu einem Leben, wie wir es kennen? Gott hat die Welt in sechs Tagen erschaffen, am siebten ließ er sie ruhen. Kann ich daran glauben? Sechs Tage. Eine so kurze Zeit. Unantastbar, unerreichbar, ist es doch so weit. So unnahbar. Unzählige Jahre. Wie lange lebe ich? Ein Leben lang. Vergehen. Verweilen. Eine Zeitspanne. Ein Ablauf. Und eh man sich versieht, ist das Jahr vorbei, ein neues beginnt und endet schließlich auch. Was bleibt, ist der Moment. Ein Moment, in dem man sich vielleicht auf etwas freut, gespannt auf etwas wartet. Für mich aber sind diese Momente immer seltener geworden und haben inzwischen aufgehört zu sein. Für mich ist es nur noch ein Ablauf. Die Zeit scheint auf „Wiederholung“ gestellt. Wenn ich ganz tief in mich gehe, dann habe ich das Gefühl, kein Mensch zu sein, sondern eine Illusion, die durch das All schwirrt und immer in völlig unterschiedlichen Zeiten lebt. Manchmal denke ich, ich wäre unsichtbar.

Die Krise, die uns umkreiste. Uns veränderte. Jeder von uns ist unterschiedlich damit umgegangen. Doch als mein Vater auszog und neu heiratete, war meine Mutter nur noch mit sich selbst beschäftigt. Vielleicht kann man sagen, sie war psychisch und dann auch physisch am Boden. War nicht stark genug. Einsam. Nahm Abstand. Ging. Wenn sie in meinem Zimmer steht und sich eine Zigarette in den Mund steckt, weiß ich, dass sie gleich wieder gehen wird. Dann ist es bereits zu spät. Keine Möglichkeit mehr für ein Gespräch mit ihr. Ich sitze in meinem Zimmer, nehme meinen Teddy in den Arm. Mein Liebling aus meinem früheren Leben. Eine Erinnerung. Ich lausche.

Dann höre ich einen Klang. Eine Musik. Es kommt aus dem Wohnzimmer. Vielleicht ist es eine Hoffnung. Ein Traum. Vielleicht ist es aber auch ein Schritt. Ein Neuanfang. Ich höre Mama ein Weihnachtslied mitsummen. Dann ruft sie meinen Namen aus. Ich beschließe, zu ihr zu gehen. Aber ich möchte noch einen Moment warten. Es ist ein Gefühl von Unsicherheit, Unbehagen. Ein Geruch von Zimtsternen, Bratapfel und Punsch steigt auf.  Als hätte sich etwas Entscheidendes verändert. Eine Bewegung. Ich frage mich nicht mehr lange nach dem Grund. Ich beschließe: Weihnachten war schon immer ein Fest der Liebe, und im Jahre 2099 soll es etwas ganz Besonders sein.

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Stand: 20. November 2008