Die (Un)besiegbaren

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Sie standen voreinander, als hätten sie sich noch niemals gesehen. Wie Unbekannte schauten sie sich an, schienen scheue Tiere zu sein.
Von unbekannt konnte jedoch keine Rede sein. Ines und Sören kannten sich seit dem Kindergarten. Schon damals, als sie noch im Sand gesessen und unförmige Figuren  gebaut hatten, hatten sie gewusst, es war etwas ganz besonderes zwischen ihnen.
All die Zeit, die bis jetzt vergangen war, war Sören nie von Ines´ Seite gewichen. Sie war mit Sören zusammen in die Schule gegangen bis zum Abitur.
Sie hatten auch schlechte Zeiten, aber letztendlich waren sie sich nie ernstlich böse gewesen. Diese Streits waren längst vergessen und ihre Inhalte nicht von Belang, man konnte sie eher mit den Raufereien aus Kindertagen gleichsetzen.
Sorglos hatten Ines und Sören in die Zukunft geblickt, in der Überzeugung, ihre überaus harmonische und liebevolle Beziehung gehe so weiter bis an ihr Lebensende.
Doch nun war auf einmal alles anders geworden. All die Vertrautheit war verflogen, als wären Diebe gekommen, die die Liebe mit sich genommen hatten.
Ines hatte schon länger bemerkt, dass etwas zwischen ihr und Sören kaputt gegangen war. Sie fühlte sich von ihm vernachlässigt. Vor einigen Tagen hatte es ein Telefonat mit Sören gegeben, das ihr gezeigt hatte, dass es so nicht weiter gehen konnte. Sie hatte ihn zur Rede stellen wollen, warum er sich so lange nicht gemeldet hatte, doch er war gar nicht auf ihre Fragen eingegangen. Sie hatte seine Abwesenheit gespürt, so deutlich wie nie zuvor.
Auf ihre Frage, ob er ihr überhaupt zuhöre, hatte er nur geantwortet: „Schon, aber ich mache hier noch was am PC“ Das hatte Ines derart gekränkt, dass sie sofort aufgelegt hatte.
Wie konnte Sören nur so ignorant geworden sein? Seiner eigenen Freundin nicht zuzuhören, obwohl sie Sorgen hatte, noch dazu seinetwegen. Ines wollte Sören nicht mehr wieder sehen, obwohl sie insgeheim doch hoffte, es gebe noch eine Klärung des Problems. Im Moment jedenfalls wollte sie weder ein Gespräch, noch Briefe, nichts mehr, nur Zeit.
Doch nun war Sören plötzlich aufgetaucht, vor ihrer Haustür stand er und in seinem Gesicht sah sie sein schlechtes Gewissen.
Widerwillig hatte sie ihn hinein gebeten, in die Küche. Hier saßen sie nun und schwiegen sich scheinbar endlose Minuten an. Ines fuhr sich durch die kurzen, struppigen Haare. Die Stimmung war angespannt und die Raumluft fühlte sich warm und stickig an.
Ines hatte die Küchentür nicht ganz geschlossen, sondern nur angelehnt. Ein Widerschein der Lampe im Flur drang sanft in die Küche. Das tauchte den Raum in ein ganz besonderes Licht, vertraut und doch fremd.
Um die beklemmende Stille zu beenden, begann Ines: „Sören, ich dachte, es wäre alles gesagt. Was willst du also hier?“
„Ich kann dich nicht verstehen. Nach all den Jahren legst du den Hörer auf? Wegen einer Kleinigkeit? Bloß, weil ich etwas nebenbei gemacht habe?“
Ines schoss die Zornesröte ins Gesicht. „Kleinigkeit nennst du das? Schon seit ein paar Wochen interessierst du dich kaum noch für mich. Meinst du, so was fällt mir nicht auf?
Ich habe erstmal nichts gesagt, weil ich dachte, das gehe vorüber. Doch das gestern hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Verstehst du das nicht? Du rufst mich nicht an, du schreibst keine SMS mehr, da ist es doch wohl klar, dass mir das komisch vorkommt.
Ich möchte einfach, dass wir in unserer Beziehung ehrlich miteinander umgehen, ich finde, es sollte nicht einfach so auseinander laufen. Vielleicht sollten wir uns erst einmal über einen bestimmten Zeitraum nicht sehen. Ich muss über alles nachdenken. Es ist bestimmt nicht richtig, die wunderbare Zeit, die wir miteinander hatten, wegzuwerfen.“
Sören griff nach Ines´ Händen, die ein wenig zittrig auf der Tischplatte lagen. Am Ringfinger der linken Hand steckte der silberne, filigran gearbeitete Ring, in dessen Innenseite Sörens Name eingraviert war. In der zehnten Klasse hatte er ihn ihr geschenkt, als Zeichen seiner Liebe zu ihr. „Ines“, versuchte er zu schlichten, „ich bereue keine Sekunde mit dir, aber wo sind denn unsere Gefühle geblieben?“ In diesem Moment zog sie ihre Hände weg. Er sah ihr tief in die Augen, die so einzigartig blau waren. In diese Augen hatte er sich damals verliebt. Doch genau diese waren es vor vierzehn Tagen gewesen, die er vergessen hatte, als er sich mit seiner Nachbarin auf einer Party vergnügt hatte. Sie beide waren betrunken gewesen und er würde sie auch niemals wieder sehen, doch trotzdem war es passiert und bedauerlicherweise nicht rückgängig zu machen. Sören hasste sich dafür, seine Ines so schamlos hintergangen zu haben. Wie niederträchtig das war! Er hatte sie überhaupt nicht mehr verdient.
„Ines“, begann er, „der Grund, warum ich mich nicht gemeldet habe, ist, dass ich auf der Party vor zwei Wochen etwas getan habe, was nicht hätte passieren dürfen. Einzelheiten möchte ich dir ersparen, es würde dich nur unnötig verletzen, das möchte ich wirklich vermeiden. Du wirst mir das nicht verzeihen, doch ich schwöre dir, seitdem weiß ich, dass ich nur dich liebe!“
„Diese Floskeln kannst du dir sparen!“, rief Ines, „alles hat seine Zeit, Sören. Unsere ist hiermit beendet. Geh´ jetzt.“
Resignierend stand er auf und ging hinaus. Laut fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Er wusste, diese Tür hatte er zum letzten Mal durchschritten. Für ihn würde sie von jetzt an fest verschlossen bleiben. Ines hatte er verloren und es gab keine Hoffnung mehr für die beiden, denn er hatte alles zerstört.
Auf der anderen Seite der Tür legte Ines die Hand an das Holz. Der Lichtschein vom Flur war erloschen, das Zeichen für sie, dass es ab jetzt zwischen ihr und Sören nur noch Dunkelheit geben würde. „Vorbei“, flüsterte sie.
Am nächsten Tag warf sie Sörens Ring in einen kleinen Teich. Ein letztes Mal glitzerte das Metall in der Sonne, bevor er auf den Grund sank.

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Autorin / Autor: Henrike, 16 Jahre - Stand: 15. Juni 2010