Totenblumen

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Zögernd, wie in Zeitlupe näherte sich die schmale Hand der schlichten Türklinke. Die Haut war unnatürlich bleich, hatte fast die Farbe von frischen Lilien.
Totenblumen.
Stella erschauderte bei diesem Gedanken und rang verzweifelt nach Luft. Ein zentnerschwerer Druck auf der Brust schien ihren Atem abzuschnüren, sie zu erdrücken. Von der vom Geruch nach Desinfektionsmitteln getränkten Luft wurde ihr seltsam schwindelig, die Konturen der halb geöffneten Tür schienen auf eine merkwürdige Art zu verschwimmen. Nur das Neonpink ihrer perfekt gepflegten Fingernägel leuchtete schwach im Zwielicht des kargen Krankenhausflures.
Stella schluckte trocken.
Einige Zentimeter über der Klinge verharrte ihre Hand, als trenne eine unsichtbare Barriere ihre Handfläche von der Berührung des kalten Chroms.
Sie schaffte es nicht, konnte ihre Finger nicht dazu bewegen, die Tür ganz aufzuziehen und über die Schwelle zu treten.
Beweg dich, befahl sie sich, du kannst es nicht ewig aufschieben. Sieh der Wahrheit endlich ins Gesicht.
Starr heftete sich der Blick des Mädchens auf den weißen Handrücken, musterte die roten Kratzer darauf. Wie Blut im Schnee.
Wieder stürzten die Erinnerungen auf Stella ein, drohten sie zu erfassen, zu verschlingen.

Sie selbst hatte Glück gehabt, unbeschreibliches Glück. Die Kratzer an ihren Händen und ein verstauchter Fuß waren alles, was sie bei dem Unfall an Verletzungen davongetragen hatte.
Beim Gedanken an jene verhängnisvolle Novembernacht vor zwei Wochen begann Stella, unkontrolliert zu zittern. Beißende Kälte schien durch ihren Körper zu strömen wie flüssiges Eis, ihr Atem wurde zu einem ersticktes Keuchen, schließlich ein erbittertes Schluchzen.

Sie hatte doch nur Spaß haben wollen, ihren langweiligen strengen Eltern ein Schnippchen schlagen.
Noch nie vorher war etwas passiert.
Buck und Flipper, die Jungs aus ihrer Gang, fuhren schon seit Jahren auf der Ringstraße um die Stadt Motorradrennen. Mit „geliehenen“ Kisten natürlich. Freitagnachts, wenn ihre Eltern im Theater oder bei einer Dinnergala waren, bei jedem Wetter. Bei Regen war es am besten, der ultimative Adrenalinkick.
Immer waren sie wohlbehalten wieder zurückgekommen, hatten gelacht, sich grinsend auf die Schultern geklopft, mit ihren Heldentaten geprahlt und Bierdosen herumgehen lassen. Je gefährlicher die Manöver, desto größer der Ruhm.
Stella lachte bitter.
Wie stolz sie doch gewesen war, damals, als sie in die Clique aufgenommen wurde. „Ice“ war ab diesem Tag ihr Spitzname, wegen ihrer schneeweißen, reinen Haut.
Ab letztem Sommer war sie dann auch mitgefahren bei den Rennen, hatte immer alles daran gesetzt, den Jungs um nichts nachzustehen, sich zu beweisen. Dazugehören wollte sie. Um jeden Preis.
Und dann, mitten im November, war das Blitzeis gekommen, niemand hatte damit gerechnet. Eben hatte sie noch lachend einen Autofahrer mit hundertachtzig Sachen überholt, in der nächsten Sekunde hatte sie bereits die Kontrolle verloren.
So schnell konnte es also gehen.
Verzweifelt rieb sich Stella übers Gesicht. Es kümmerte sie nicht, dass dabei ihr Puder völlig verschmierte. Eigentlich kümmerte sie seit dem Unfall gar nichts mehr. Schon gar nicht ihr Äußeres.
Der Fahrer des Wagens hatte ausweichen wollen, als sie ihm plötzlich auf der Gegenfahrbahn entgegenkam. Seine Bemühungen, sie zu schützen, wurden ihm durch einen Sturz den meterhohen Abhang hinunter gedankt.

Ihre Freunde, die ihr so wichtig gewesen waren, viel wichtiger als ihre Eltern, von denen sie gedacht hatte, dass sie immer zu ihr stehen würden, hatten auf einmal vorgegeben, sie nicht einmal zu kennen, als die Polizei auch die restlichen Motorradfahren schließlich stellte.
Sie selbst wurde ins Präsidium abgeführt, sie hatte ja nicht mal einen Führerschein gehabt.
Was aus den Insassen des Wagens geworden war, hatte sie drei Tage lang nicht gewusst.
Und zurückblickend waren dies sogar drei wunderbare Tage gewesen waren, in denen sie noch nichts von der schrecklichen Wahrheit gewusst hatte.
Und nun stand sie hier, von ihren Eltern gezwungen, sich bei ihrem Opfer zu entschuldigen.

Die Beerdigung letzte Woche hatte sie schon überstanden, wie- das wusste sie nicht. Die feindseligen Blicke der Angehörigen hatten sie schier durchbohrt. Und sie hatten ja Recht. Der Tod des jungen Studenten am Steuer war ihre Schuld.
Und sie würde es sich nie verzeihen.
Wie dumm war sie doch gewesen.
Schneller, gefährlicher, immer cool dastehen - nur darum war es gegangen.
Das hatte sie nun davon..
Jetzt musste sie der Großmutter des Jungen gegenübertreten, die alte Dame, die auf dem Beifahrersitz vor den schlimmsten Folgen des Sturzes geschützt gewesen war. Trotzdem hatte sie beinahe eine Woche im Koma gelegen. Und Stella hatte absolut keine Ahnung, wie sie der verzweifelten Frau entgegentreten sollte.
Nur diese Tür, die nicht einmal vollständig geschlossen war, sondern einige furchteinflößende Zentimeter offen stand, bot noch Deckung, schützte sie vor dem vorwurfsvollen, anklagenden Blick der Großmutter.
Nein, sie konnte es nicht, konnte sich nicht überwinden, die Tür aufzustoßen und über die Schwelle zu treten.
Wie sollte sie nur mit der Last dieser erdrückenden Schuld weiterleben?
Wieso war es nicht sie gewesen, die noch an der Unfallstelle starb?
Warum hatte gerade sie solches Glück gehabt?
Sie hatte es wirklich nicht verdient.

In breiten Schlieren lief Wimperntusche über ihre Wangen, vermischt mit ihren Tränen, während ihr Körper von Schluchzern geschüttelt wurde. Kraftlos lehnte sie an der weiß tapezierten Wand.
Bis die Tür des Zimmers aufgestoßen wurde.
Der unausweichliche Augenblick war gekommen, sie konnte der Begegnung nicht länger ausweichen. Doch obwohl sie genau wusste, was sie zu tun hatte, wollten ihre Beine ihr nicht mehr gehorchen.
In langen Sätzen trugen ihre Füße sie nach draußen, nur fort von dieser Tür.
Sie konnte die Wahrheit einfach nicht ertragen.
Die weißen Lilien, die sie der Dame hatte mitbringen sollen, fielen ungeachtet auf den Boden, und wurden im nächsten Moment von den Füßen einer Krankenschwester zertreten.

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Autorin / Autor: Eva, 15 Jahre - Stand: 15. Juni 2010