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Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Dies ist meine Geschichte, sie erzählt von meinem Leben, mit nichts anderem als der Wahrheit.
Nicht immer war ich der glückliche fröhliche Mensch, den ich mittlerweile zutage bringe, früher war ich anders.
Wenn ich mich mit drei Worten hätte beschreiben müssen, wären es die Wörter alleine, traurig, und vorsichtig gewesen.
Alleine, weil ich niemanden hatte, der mich verstand, oder mich gar gut schätzte.
Traurig, weil meine Eltern durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen waren, als ich 5 Jahre alt war.
Und vorsichtig, weil ich jede Sekunde meines Lebens mit der Angst verbrachte, das nächste Opfer eines Unglücks zu sein.
Nach außen hin war meine Seele verschlossen, mein Leben sinnlos und gleichgültig. Bis ich einen besonderen Menschen kennenlernte.
Es passierte an einem dieser Tage, an denen man am liebsten im Bett geblieben wäre. Die ganze Nacht hatte der Regen gegen mein Fenster gepeitscht und der Donner mich wachgehalten. Dementsprechend war ich am nächsten Tag noch unglücklicher als sonst. Während ich mit langsamen Schritten die steile Straße in Richtung Schule erklomm, fragte ich mich wieder einmal, warum Gott mir dieses Leben gegeben hatte, und kein anderes, voller Glückseeligkeit und Freude. Mittlerweile hatte ich den Glauben aufgeben, die Unmöglichkeit von Gottes Existenz war mir schon früh bewusst geworden, spätestens 3 Jahre nach dem Tod meiner Eltern.
Ich war gerade dabei, wie jeden Morgen, an der Ecke Kreuzstraße abzubiegen, als mich ein spärlicher Hilferuf erreichte.
Panisch drehte ich mich um und sah gerade wie ein Mann einem anderen die Brieftasche entriss und wegrannte. Anstatt nun, wie in einem Actionfilm, den Dieb zu verfolgen, kam ich zu dem Entschluss dem außergewöhnlich bunten Mann zu helfen, den der Dieb in der Eile zu Boden gestoßen hatte.
„Kann ich ihnen helfen?“ fragte ich höflich und betrachtete ihn genauer.
Braune, etwas längere Haare, ein blaues und ein grünes Auge, und breite Lippen. Doch das wohl interessanteste an ihm waren seine Klamotten, die durch und durch bunt waren. Es fing an mit den Schuhen, diese waren blau-lila gestreift und hatten kleine Glöckchen an den Schnürsenkeln. Die Hose war im Vergleich zum Rest relativ normal, es handelte sich um ein Rot, dass mich im ersten Moment an Blut erinnerte. Er trug ein gelbes Hemd, mit blauen Sternen bedeckt und eine grüne Weste. Ich begann mich zu wundern, wie er hier draußen bei dieser Kälte überlebte, aber er schien keine Probleme zu haben. An seinen Händen steckten jede Menge Ringe, mit bunten Steinen, in Gold und Silber, und jede Menge Armreifen baumelten am Handgelenk. Um den Hals trug er ein Medaillon, eines von denen, die man aufmachen, und Bilder hineinstecken kann.
Die Krönung des Outfits war ein orangefarbener Hut, mit einer blauen Feder.
Kurz warf sich mir die Frage auf, ob er schwul war, doch ich verwarf den Gedanken gleich wieder, denn er sah keineswegs so aus, nur ein wenig verrückt, aber dennoch nett.
„Nein, aber trotzdem Danke“ antwortete er auf meine Frage.
Ich wollte mich schon umdrehen, weggehen, als er mich fragte: „Ich bin Ilmo und du?“
„Valerie.“
Er lächelte. „Darf ich dich auf einen Kaffee einladen, Valerie?“
Ich wollte nicken, doch dann wurde mir wieder bewusst, dass die Schule in wenigen Minuten begann.
Aber auch egal, Schule war schließlich jeden Tag, eine Verabredung hingegen nur selten.
Wir gingen in ein kleines schönes Café, und Ilmo bestellte einen Kaffee für uns. Mir fiel auf, was für eine schöne Stimme er hatte, nicht so dunkel und rau, sondern weich und warm.
„Und, wo gehst du zur Schule?“ versuchte ich ein Gespräch in Gang zu bringen.
„Homeschool“ war seine Antwort. „Ich bin beim Zirkus, und meine Mutter bringt mir alles nötige bei.“ Er lächelte. Ich überlegte, wie alt er wohl war, er ging noch immer zur „Schule“ aber ich wollte ihn nicht fragen, das wäre unhöflich.
„Zirkus klingt cool.“
„Ist es auch, wir reisen umher und haben Spaß, wir sind wie eine Familie.“
Das Wort Familie schmerzte. Er war glücklich, ich nicht.
„Wie sind deine Eltern so?“ fragte ich.
Er zuckte mit den Schultern.
„Wie alle Eltern halt sind, nervig, verrückt, wollen immer alles wissen, du kennst das ja alles sicher.“
Ich schüttelte den Kopf. Fragend sah er mich an.
„Meine Eltern, sie sind gestorben als ich 5 war, ein Unfall, seitdem wohne ich bei meinen Adoptiveltern.“
„Tut mir Leid.“
Ich öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch es wollte nichts kommen. Ich trank einen Schluck  Kaffee, er schmeckte bitter. Stumm reichte Ilmo mir den Zucker.
„Danke“ murmelte ich.
Wir schwiegen. Schließlich, nach minutenlanger Stille fragte er:
„Willst du mal mitkommen, zum Zirkus? Wir haben sogar einen Babyelefanten, und du kannst mal auf einem Trapez herumklettern. Und vielleicht lernst du Josef kennen, er ist der Clown und er ist wirklich lustig. Oft läuft er einfach nur durch die Gegend und nimmt sich irgendwelche Gegenstände, egal ob sie ihm gehören oder nicht.“
Ich musste lachen. Das erste Mal, dass ich lachte, nach all den Jahren.
„Und was ist deine Rolle beim Zirkus?“
„Ich bin der Hilfsclown. Ich und Josef wir machen die Show gemeinsam, er spielt meinen Vater, der mit mir schimpft und manchmal ist er auch meine Mutter, und ich mache immer irgendetwas böses, und die Menschen lachen dann. Es ist toll in die Menge zu sehen und ihre glücklichen Gesichter vor mir zu haben.“
Ich lächelte. „Du hast mich zum Lachen gebracht,  das ist eine große Leistung.“
Wir sahen uns jetzt direkt in die Augen.
„Glaubst du an Freundschaft auf den ersten Blick?“ fragte er mich.
„Heißt das nicht, Liebe auf den ersten Blick?“
„Glaubst du daran?“
„Jetzt schon.“
Ilmo brachte mich zurück ins Leben, er war wie ein Engel, der mir plötzlich erschienen ist. All die Jahre dachte ich, dass meine Seele für immer verschlossen ist, doch in Wirklichkeit war sie nur angelehnt, wie eine Türe, und Ilmo war es, der mich zu dieser Erkenntnis gebracht hat.
Und nun weiß ich, dass egal wie alt, wie verbittert oder traurig, es braucht nur einen Engel, um deine Seele in den Himmel zu bringen.

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Autorin / Autor: Valerie, 14 Jahre - Stand: 15. Juni 2010