Eine abgelehnte Tür

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Mein Grossvater besaß eine Mühle. So eine richtige, mit Wasserrad, die Mehl mahlen konnte. Am Wochenende gingen wir meinen Opa oft besuchen.
Auch an jenem Wochenende war es wieder so weit. Wir machten uns auf den Weg zur Mühle. Ich sag euch: die Zugfahrt war so was von langweilig, ich wäre beinahe eingeschlafen. Vom Bahnhof aus mussten wir noch eine Viertelstunde laufen. Lennart, mein kleiner Bruder nörgelte und nörgelte, bis Vater ihn mit den Worten: „Wir sind ja gleich da“, zum Schweigen brachte. Ich sage dir kleine Brüder…
Endlich kam die Mühle in Sicht. Bello, der Hofhund sprang uns freudig entgegen und bellte. Grossvater hatte einen Besen in der Hand und wollte gerade ins Haus gehen. Doch  Bellos Bellen drang an seine Ohr und er blieb stehen. Lennart rannte lachend auf ihn zu und warf sich in Opas offene Arme.
Nach der Begrüssung bezog ich mein Zimmer. Es war recht klein. Darin standen ein Bett ein Holztisch und ein Stuhl. Vom Fenster aus konnte ich den Mühlteich sehen. An der Wand neben dem Tisch befand sich ein kleiner Bücherschrank. Ich pfefferte meinen Rucksack in die Ecke und liess mich aufs Bett fallen. Das Zimmer war mein Reich. Ich starrte die Decke an, dann schloss ich die Augen und sog die Luft tief ein. Es roch nach Holz, nach Wald und Getreide, und, was ich besonders mochte: nach alten Büchern. Hier hatte ich meine Ruhe, da war niemand der nach mir rief und fragte: „Aline, hast du die Hausaufgaben schon gemacht?“.
Ich begann meinen Rucksack auszupacken. Mein Lieblingsbuch, das Pyjama und mein Tagebuch. Als ich das Buch auf den Tisch legte fielen ein Foto und ein Brief heraus. Auf dem Bild war ich zu sehen und neben mir ein blonder Junge, Jason, mein Brieffreund, auch der Brief war von ihm. Ich betrachtete meine struppigen schwarzen Haare und meine grau-blauen Augen.
Ich legte Brief und Foto auf den Tisch und stieg die Treppe hinunter zur Mahlkammer. Die alten Stufen knarrten bei jedem meiner Schritte. Unschlüssig wo ich hingehen sollte blieb ich mitten in der Kammer stehen. Ein leichter Nebel aus Mehlstaub hing in der Luft. Rechts von mir stapelten sich Getreidesäcke. Ich stieg hinauf  zu den Schütten, stellte mich auf die Zehenspitzen und spähte in die erste hinein. Sie war leer. Draussen bellte Bello. Wahrscheinlich spielte mein kleiner Bruder gerade mit ihm. Auf einmal vibrierte der Boden unter meinen Füssen. Mit einem Ruck war die Mühle angelaufen.
Das vertraute Rumpeln erfüllte die Mühle. Ich stand eine Weile nur da und lauschte. In das Knarren der Zahnräder mischte sich auch das Geräusch der Mühlsteine die aneinander rieben. Ich hatte keine Lust mit Lennart zu spielen oder meinen Grosseltern zu helfen. Was also tun?
Ich sah mich um. Was war eigentlich hinter der Tür, dort drüben? Vorsichtig näherte ich mich der Tür. Langsam Schritt für Schritt. Die Tür war schmucklos. Sie bestand aus alten Brettern. Nur die Klinke aus Eisen trug eine Verzierung, sie sah aus wie ein Blatt. Nun stand ich direkt davor. Auf Augenhöhe war ein seltsames Wort in das Holz geritzt worden: Endras. Was sollte das wohl bedeuten? Die Tür war nur angelehnt. Durch den Spalt drang ein Lichtstrahl. Stimmen drangen durch die Bretter. Ich umfasste das kalte Eisen der Klicke, holte tief Luft- und öffnete die Tür. Grelles Licht blendete mich und ein Kreischen, hoch und schrill, wie aus vielen Kehlen tat mir in den Ohren weh. Schnell schloss ich die Tür wieder und lehnte mich dagegen.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und öffnete die Tür wieder. Diesmal war da kein Licht. Hinter der Tür war nichts. Es war als wäre ich blind geworden. Und da waren sie wieder die Stimmen, flüsternd. Auf einmal tauchten in dem Nichts vor mir Nebelfetzen auf. Sie waberten auf und ab, als würden sie tanzen. Melodischer Singsang erklang. Langsam nahmen die Nebelschwaden Gestalt an, sie wurden zu Körpern und Gesichtern. Ein Sog zerrte an mir als wäre ich in einem Fluss und die Strömung hätte mich erfasst. Ich liess mich fallen in den Nebel. Die Stimmen wurden lauter. Wassertröpfchen setzten sich auf meinen Kleidern und meinen Haaren ab.
„Das sind Tote“, schoss es mir durch den Kopf. Aber nein das waren keine Toten, da war meine beste Freundin Lara und dort unser Mathelehrer. Ich drehte mich um und da war er: Jason. Ich wollte ihn berühren, aber er verschwamm und der Nebel formte ein neues Gesicht. Mit scharfen Kanten und geschwungenen Augenbrauen. Der Junge sah mich mit kalten Augen an. Ich wollte den Blick abwenden, aber es ging nicht. Mein Kopf begann zu brummen und dann wurde es Schwarz um mich herum. Ich spürte, dass ich schwebte, es wäre angenehm gewesen, wäre da nicht dieser brennende Schmerz gewesen. Alles tat weh.
Der Schmerz verschwand schlagartig. Ich öffnete die Augen und blickte in das Gesicht des Jungen. Der redete auf mich ein, „Warum hast du die Tür geöffnet?“ „Die Tür war nur angelehnt“, antwortete ich. „Dann musst du sie eben ablehnen“, konterte er. Wie sollte denn das gehen? Ich fragte ihn: „Und wie komme ich hier wieder raus?“  Er sah mich nur komisch an. Ich wollte schon meine Frage wiederholen als er sagte: „Du musst die Tür schliessen.“ „Kenne ich dich?“, fragte ich ihn unvermittelt. Er sah mich an. Dann verschwamm er und wurde eins mit dem Nebel um mich her. Es schwebten immer wieder Gesichter und Gestalten um mich herum, nicht zu fassen, wie Gedanken die an einem vorbeiziehen und die man nicht festhalten kann. Wenn sie weg sind, sind sie weg.
Ich spürte wie die Hände meines Grossvaters mich schüttelten. Auf einmal sass ich wieder in der Mahlkammer. Mein Grossvater sah mich besorgt an. Ich fragte ihn: „Opa, wie lehnt man eine Tür ab?“ Er wusste es nicht.
Ich habe die Tür seither, nicht mehr angerührt.

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Autorin / Autor: Sophie, 14 Jahre - Stand: 14. Juni 2010