Auge in Auge

Einsendung von Djonja Voigt, 14 Jahre

Ich lag mit offenen Augen im Bett und dachte an nichts. Das tat ich jeden Abend, um mich kurz vom alltäglichem Stress erholen und gut einschlafen zu können. Aber heute gelang mir dieses Schweben in der Leere nur kurz. Ein komisches Gefühl, das ich nicht kannte, hatte mich abstürzen lassen und wieder in die Realität befördert. Es war so seltsam, dass ich gar nicht erst versuche, es besser zu beschreiben. Verwirrt legte ich mich auf die Seite und sobald ich meine Augen schloss, wurde ich von der Müdigkeit langsam in eine andere Welt entführt.

Ich wachte von einem Knurren auf, wie das eines Raubtieres. War das Mama? Ich schaffte es nicht, mich zu erheben, denn ich fühlte mich zunehmend schwach. Dann merkte ich, dass ICH das Knurren verursachte, genauer gesagt, mein Magen. Der Hunger war zunehmend stärker geworden. Schnüffelnd hob ich meine schwarze Nase, in der Hoffnung, Mamas Geruch wahrzunehmen, aber nein, nicht mal einen Deut dieses für mich voller Hoffnung steckendem Geruchs konnte ich wahrnehmen. Meinen Bruder hatte der Hunger noch nicht so sehr beeinträchtigt, dass er mit mir hätte hier bleiben müssen. Er ist mit Mama, dem stärksten Eisbär der Arktis, weiterhin auf Jagd gegangen. Allein. Hunger. Müde. Ich wusste, schlösse ich jetzt die Augen, würde ich sterben. Sehr lange waren Mutter und Bruder nun schon fort und als sie die Male davor heim kamen, hatten sie auch nicht viel Essen mitbringen können. Als ich schon fast eingeschlafen war, ertastete meine Nase einen bekannten Geruch, der mich wieder, wenigstens halbwegs, erwachen ließ. Mama war es nicht, aber ich sah, wie sich mein Bruder kraftlos in die Höhle schleppte und wie ein Sack neben mich fiel. Das letzte, was er sagte, war: „Mutter ist im Eis eingebrochen und schaffte es nicht mehr aufs feste Eis zurück. Sie ist ertrunken. Ich habe Hunger. Schlaf’ gut.“ Damit schlief er ein und ich folgte seinem Beispiel, mit einer Trauer im Herzen, dessen Größe nicht in meinen kleinen Körper passte.

Ein Sog erfasste mich, der mich aus der Kälte, vom Pol weg und hin nach Nordamerika, zu seiner Lebensader, dem Mississippi, brachte. Würde ich nun wieder in die Gedanken eines Tieres eintauchen? Weit gefehlt, denn ich tauchte direkt in den Mississippi ein.

Langsam floss ich dahin. Ich fühlte mich wie ein gefallener König, aller Macht, Würde und Majestät beraubt, und zum Sklaven gemacht. Früher war ich noch wild und unberechenbar, konnte mich in meiner Freiheit ausleben. Ich war lebendig. Doch nun hatte sich jemand über mich gestellt, der mich als sein Eigentum beansprucht hatte. Der Mensch. Der Zerstörer allen Lebens, um sich selbst am Leben zu erhalten. Warum ignorieren sie, dass kein Lebewesen ohne andere überleben kann? Auch sie nicht. Durch sie werde ich von Tag zu Tag lebloser, weil sie meine vorher wohlbehüteten Bewohner vergiften, indem sie mich mit ihrem Dreck, ihren Chemikalien, ihrem Dünger verseuchen. Ich befand mich unter ständigen Zuckungen, denn ich spürte, wie in mir meine Bewohner in meinen sauerstoffarmen Todeszonen, die der Mensch in mir durch den übermäßigen Zufluss an Dünger gepflanzt hat, oder an Müll erstickten oder durch gefährliche Substanzen vergiftet wurden. Mein Herz zerbrach daran. „Nicht mal meinen Besuchern vom Land kann ich mehr klares Wasser geben“, dachte ich trübsinnig. „Nun bin ich sinnlos, ohne Zweck, denn man hat mir die Möglichkeit genommen, meine Aufgabe - nämlich mich um eine Unzahl an Leben zu kümmern - entsprechend zu erfüllen.“ Weiter, immer weiter floss ich, durch rauchverpestete Städte hindurch, an Fabriken und Schloten vorbei. Mein Rückgrat schmerzte von den vielen Schneisen, die die vielen Schiffe in mich reingruben. Dann wurde ich in meinem Fließen jäh gestoppt. Eine hohe Wand, von Menschen gebaut, versperrte mir den Weg und meine schwindende Kraft reichte nicht aus, um sie zu durchbrechen. Also verharrte ich dort, wie der Mensch es von mir befahl.

Bevor ich es richtig realisieren konnte, hatte mich der Sog abermals erfasst. Ich fragte mich während meiner Reise, warum ich bloß immer noch nicht aufgewacht war, ich wurde hier von einen Alptraum in den nächsten geworfen, mit einer Schrecklichkeit, die ich noch nie erlebt hatte. Es fühlte sich alles so real an. Zu real.

Komisch. Was war das für ein Geräusch? So ein leisen Prasseln und Knistern. Sowas hatte ich noch nie gehört. Und dieser penetrante Geruch nach...Rauch? Irgendwie war mir nicht wohl in der Haut. Auch mein kleines Kind, dass sich wie immer an meinen Rücken klammerte, war unruhig. Vielleicht bildete ich mir das alles nur ein. Vielleicht hatte ich nur Hunger. Zuversichtlich griff ich mir ein paar Eukalyptusblätter vom nächsten Ast und fraß sie, aber ruhiger wurde ich dadurch nicht. Geräusch und Geruch wurden immer stärker. Nun fing es an, überall zu flackern. Ich wusste immer noch nicht, was genau es war, aber ich wusste eins instinktiv: Es war Gefahr. Züngelnde Flammen verschlangen nun das Unterholz überall in der Umgebung. Nun fingen die Feuerzungen auch an, meinen Baum abzulecken. Nun half nur noch eins. Nach oben. Nach oben kann keine Gefahr gelangen. Dort bin ich sicher. So schnell ich konnte, kletterte ich den Stamm empor. Oben, oben, oben. Doch die Flammen folgten mir. Eine Gefahr, die bis nach oben klettern konnte? Ich war verzweifelt, doch nun war es zu spät. Ich war oben angelangt und trotzdem kamen die Flammen immer näher, zusammen mit ihrem betäubenden Gestank. Schnell umgaben sie mich und raubten mir die Flucht und den Atem. Dann hörte ich ein lautes Krachen und ich viel. Nein, der Baum fiel, alles, woran ich mich je festgehalten hatte und es jetzt immer noch tat, denn bis jetzt war dieser Baum mein Zufluchtsort, mein Zuhause gewesen. Ich schloss die Augen.

Nach Atem ringend wachte ich auf. Noch immer hatte ich den Rauchgeruch in der Nase. Ich zitterte und schwitzte am ganzen Körper. Und ein Satz war in meinen Kopf, der in meinem Gehirn wie ein schmerzender Hammer pochte: Auch du bist daran schuld, DU bist daran schuld.