Die letzten Blumen

Einsendung von Malou Beidersandwisch, 13 Jahre

Amy lief eine graue Hauswand entlang. Jede Wand die sie kannte sah exakt aus wie diese; grau, rau und eckig.
An der Ecke, wo Amy abbiegen musste, stand wie an jeder ein Taxi, das auf einen der gestressten und überarbeiteten Geschäftsleute wartete.
Sie öffnete das hüfthohe Gartentor. Kaum hatte sie das Tor geschlossen, lief sie über das ausgetrocknete Gras rüber zu einem Stein, der in der Mittagshitze zu glühen schien. Es war der einzige Stein im ganzen Garten. Sie pustete den kleinen Marienkäfer, der sich gerade auf dem Stein niedergelassen hatte, runter und setzte sich darauf.
Von diesem Platz aus konnte man den kleinen Garten der Familie Läufers gut überblicken.
Wie jedes Jahr drehte Amy sich jetzt langsam einmal um die eigene Achse und zählte dabei jede einzelne Blume, die sich in ihrem Garten befand, dann nahm sie ihre Tasche, stand auf und stürmte ins Haus.
„Es sind nur noch sieben!“, flüsterte Amy traurig.
„Was sind nur noch sieben?“, ihre Mutter schaute von ihrem Buch auf.
„Na die Blumen, es sind nur noch sieben Blumen. Früher war unser Garten ein Blumenmeer, und jetzt?! Ich meine, wie können die Menschen so blind sein und die ganze Natur einfach so kaputt gehen lassen?“, mit einem Seufzer senkte sie ihren Blick.
Ihre Mutter legte ihre Hand auf die ihrer Tochter und schüttelte verständnislos den Kopf.

Es war genau ein Jahr später und in der Zeit war so viel passiert. Amy´s Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Schuld daran war ein Lkw-Fahrer, der während er fuhr auf sein Smartphone geguckt hatte.
Nun saß sie wieder auf dem selben Stein wie jedes Jahr und zählte die Blumen. In dem Moment als Amy realisierte, dass es wirklich nur noch vier waren, beschloss sie etwas zu tun. Sie würde sich auf den weg machen zu Milla Marie, der wohl berühmtesten Person, die es gab.

Noch einmal drehte sie sich um. Sie hatte ihrer großen Schwester Susi, die sich seit dem Tod ihrer Eltern um sie kümmerte, erzählt, sie würde bei ihrer Freundin schlafen und sich darauf hin verabschiedet. Amy war, seit sie gestern beschlossen hatte zu Milla Marie zu fahren, nicht mehr von ihrem Plan abgewichen. Sie hatte vor sie aufzufordern, ihr Handy mal ein wenig wegzulegen und mehr auf die Umwelt zu achten. Und wenn sie es tun würde, würden es ihre Fans hoffentlich ebenfalls tun.

Außer Amy saß nur ein Mann im Bus. Durchgehend tippte er auf seine teuer aussehende Uhr und murmelte immer wieder: „Zu spät!“
Amy ging nochmal ihren nur halb durchdachten Plan durch. Sie wusste nicht viel über Milla Marie, doch was sie wusste war, dass diese Person Herausforderungen liebte.
Als sie aus dem Bus stieg, hatte sie kaum noch Energie. Sie stieg in ein Taxi und nannte die Adresse. Anders als bei anderen Prominenten war Milla Marie‘s Adresse kein großes Geheimnis. Sie hatte genug Sicherheitsleute, als dass das Verraten ihrer Adresse eine Gefahr wäre.

Amy stand vor einem riesigem Tor. Ihr Herz schlug verdammt schnell und obwohl es gerade angefangen hatte zu regnen, war ihr warm. Wie sollte sie nur dort reinkommen? Das imposante Gebäude, das hinter dem Tor in die Luft ragte, war von Leuten nur so umzingelt.
Sie lief hinters Haus und stellte sich genau an die richtige Stelle. Die steinerne Mauer war nicht sehr hoch und es schienen keine Leute oder Kameras in der Nähe zu sein.
Sie stieg auf einen, aus der Mauer ragenden, Stein und zog sich hoch.
Sie sprang herunter und landete in der Hocke. Schnell lief sie zur gegenüberliegenden Hauswand. Plötzlich hörte Amy Schritte, die in ihre Richtung zu kommen schienen.
Was sollte sie jetzt tun? Da entdeckte sie eine kleine Treppe die ein bisschen entfernt von ihr in die Tiefe führte.
Sie lief drauf zu und gerade als sie ihren Fuß auf die erste Stufe setzte, sah sie einen großen Mann um die Ecke biegen.
Sie lief die Treppe runter.
Amy prüfte, ob die Tür verschlossen war, doch zu ihrem Erstaunen ging sie mit Leichtigkeit auf. Sie betrat den Raum. So leise es ging, schloss sie die Tür wieder.
Sie lief eine zweite Treppe am anderen Ende des Raumes hoch.
Vorsichtig drückte sie die Türklinke herunter. Diese Tür war ebenfalls nicht abgeschlossen.
Sie blickte sich um und stellte fest, sie war in einem gemütlich eingerichtetem Wohnzimmer gelandet.
Als sie nach links sah, erschrak sie. Eine etwas überschminkte, junge Frau starrte sie entsetzt an. Es war Milla Marie.
„Was machst Du denn hier?“, Milla Marie zog eine Augenbraue hoch.
„Ich habe vor, dich herauszufordern“, Amy versuchte so selbstbewusst wie möglich zu sein.
„Und was für ein Herausforderung soll das sein?“, Amy schien ihr Interesse geweckt zu haben.
„Du musst es 24 Stunden ohne Handy und Ähnliches aushalten. Außerdem verbringst Du den Tag draußen. Wenn es Dich nicht überzeugt hat, dann lebst du danach dein Leben so weiter wie du es getan hast. Aber wenn ich dich überzeuge, wirst Du in Zukunft mehr auf die Umwelt achten, weniger Zeit am Handy und mehr draußen verbringen. Und du forderst deine Fans auf es dir gleich zu tun, denn wenn die Leute mehr vom Handy aufschauen, achten sie wahrscheinlich mehr auf die Umwelt.“, Amy schaute sie erwartungsvoll an.
„Okay. Ich weiß noch, wie ich in deinem Alter war. Ich war ständig draußen. Wer weiß, vielleicht kommt die Begeisterung ja wieder! Ich werde gleich meinen Fans Bescheid geben“, sagte Milla Marie.

Amy telefonierte mit ihrer Schwester und gab Bescheid, dass sie eine Nacht länger bleiben würde.

Am nächstem Tag gingen die beiden rudern, picknickten, fütterten Enten und fuhren Fahrrad. Es schien Milla viel Spaß zu machen.

Als sie am Abend mit Tee vor Milla‘s Kamin saßen, unterbrach sie plötzlich die Stille: „ Ich verstehe wieder, was ich am Draußensein so toll fand. Und ich habe gestern auch noch tausende Nachrichten gekriegt, von Leuten die mitgemacht haben. Und wenn Du mal wieder Zeit hast, kannst du gerne vorbei kommen und wir wiederholen das.“
„Gerne. Wer weiß, vielleicht hat es ja wirklich der Umwelt geholfen!“, sagte Amy mit einem Lächeln.

Autorin / Autor: Malou Beidersandwisch