Künstliche Wolken

Einsendung von Serkan Chakalov, 25 Jahre

Künstliche Wolken verdecken die Sicht auf den Roten Planeten, der ein paar Millionen Kilometer von uns entfernt liegt. Strahlend hell, leicht rötlich leuchtend und staubkornklein sähe er von hier aus, wenn die dunklen und dichten Wolken am Himmel nicht wären, welche das Durchlassen von Sonnenlicht seit mehreren Jahren verhindern. Nur eisige Temperaturen herrschen jetzt auf unseren Kontinenten, und die extremen Kältetage, die zu einem unaufhörlichen Phänomen wurden, machen das Überleben da draußen fast unmöglich. Froh bin ich zumindest darüber, dass ich nicht den Willen habe, das Atmen einzustellen. Das Terraforming hat uns diesseits des Lebens gutgetan, aber andererseits gehen unsere Vorräte langsam dem Ende zu und der Hunger fängt an, die Kraftlosen innerlich zu zerfressen.

Viele würden die köstliche Konservenkost, die ich auf meinem Porzellanteller am heutigen Tag hatte, als Luxusessen bezeichnen. Das stimmt ja auch. Für die modernen Eiszeitmenschen, die zur Aasesserei gezwungen wurden, ist es ein Essen der Extraklasse. Es ist ein purer Luxus, den ich bedauerlicherweise mit niemandem teilen möchte, weil ich ebenfalls wenig zum Essen habe. Joa, selbstverständlich würde man dieses Verhalten von mir als egoistisch ansehen. Die Verhungernden würden mich als „Homomalus“ benamsen, aber leider muss ich meine Hand auf mein schönes Herz legen und sagen, dass Egoismus in uns allen drinsteckt. Wir bekommen ihn von den vorherigen Generationen vererbt und werden dementsprechend selbst zu ignoranten Egoisten.

Mich selbst aber zu einem Besonderen zu ernennen, wäre in dieser Frostphase falsch. Nichts Weiteres besitze ich außer paar Konservendosen, fünf bis sechs Textilwaren, der bereits erwähnte Teller und ein Bücherregal mit dicken Fantasy-Romanen. Naja, dazu kommt auch noch dieses witzig-winzige Versteck, das mich vor dem Erfrieren und mein übrig gebliebenes Eigentum vor Nesträubern schützen soll. Wundern tut es mich einfach, wie gut ich bis heute mit Wenigkeiten auskommen konnte. Niemand hätte damals geglaubt, dass ich eines Tages zu einem Minimalisten werden würde.

Wenn ich meine Tagesabläufe beschreiben müsste, dann sind sie in den meisten Fällen immer gleich: Das Knurren verstummen, in Fantasiewelten eintauchen, die Müdigkeit mit Schlaf füttern und endlos warten. Dagegen kann man nichts machen. So ist das neue Zeitalter und so wird es auch bleiben. Was noch weiterhin bleiben wird, sind die Jahre ohne Sommer, die eingefrorene Zeit, das traurige Pflanzenleiden, die unfruchtbaren Böden und die kalte Realität. Natürlich tun mir auch die armen Tiere leid, die durch die Massenschneefälle unter der weißen Schneedecke einer schon längst verstorbenen Landschaft begraben wurden - Lebendig! Komisch ist es, denn ursprünglich war die Decke nur zum Kühlen gedacht, aber sie hat nach ihrem Erscheinen alles Leben tiefgefroren – gefühllos und eiskalt.

Es kommt mir langsam so vor, als liefe ich barfuß über die Glasscherben eines Gewächshauses - in einem Eisschloss der Stille. Mir scheint, als wolle meine Einsamkeit die bibbernde Geduld in meinem Schneemannkopf mit einem Eiszapfen zum Platzen bringen. Oje - tausend unsinnige Gedanken krabbeln mir ständig durch die Haare und jedes Mal entstehen ausgeblichene Bilder des faszinierenden Nachbarplaneten vor meinem geistigen Auge, dessen Röte erst vor Kurzem meine eisumhüllten Erinnerungen ganz zum Tauen brachte. Vor allem seine Ödheit, Trockenheit und Verlassensein erinnerten mich an eine Vergangenheit, die anders als unsere Gegenwart aussah. In ihr lebten Egoistensöhne und Egoistentöchter, die nach Bedürfnisbefriedigung strebten. Diese liebten den Konsum, den Genuss, die Reisen und die Energierohstoffe ihrer Mutter Natur, von der sie die Schönheit eher weniger wertschätzten. Sie holzten ihr die Regenwälder ab, brandrodeten ihre tropischen Lebensräume mit Absicht, brachten sie mit Tiefbohrungen zum Weinen und hinterließen unzählige Kohlendioxid-Fußabdrücke auf ihr. Vom ganzen Verkehrslärm verstummten auch die unendlich vielen Umweltschreie. Die Ego-Menschen, die sich als Öko-Menschen sahen, wanderten in Schadstoffnebeln, traten in riesengroße Müllpfützen, urlaubten auf Plastikmüllinseln, mochten das Verrücktspielen des Wetters, tranken brennbares Leitungswasser und pflückten Fische von den Meeresoberflächen – das alles war für sie normal. Irgendwann aber, als sie an brennend heißen Tagen von ihren Hochhausterrassen aus auf überflutete Stadtteile und großflächig entstandene Permadürren blickten, überdachten sie ihr Verhalten. Nach ein paar Jahren wurde ihnen bewusst, dass sie mitten in einem Klimawandel steckten.

Da die Erde immer wärmer wurde, entschlossen sie sich eines Tages, einen künstlichen Ausbruch eines Supervulkans zu verursachen, um diesen rasanten Klimawandel zu verlangsamen. Mit dem Supervulkanausbruch sollten große Mengen von Asche und Schwefelpartikeln in die obere Atmosphäre geschleudert werden. Im Himmel müsste eine Art Schwefelschleier entstehen, der die Sonnenstrahlen nur für vorübergehende Zeit blockieren sollte. Tja – womit aber die Geoingenieure und andere Klimaleute nicht gerechnet hatten, war, dass diese letzte klimamanipulierende Notfallmaßnahme eine globale Naturkatastrophe mit negativen Folgen auslösen würde. Die zwei atomaren Wäffchen, die auf das bereits evakuierte Vulkangebiet fielen, führten zu einem Stillstand der Zeit. Einfach innerhalb weniger Monate verteilten sich die künstlichen Wolken über den gesamten Erdball, die Sonne begann mit dem Versteckenspielen, die Temperaturen sanken drastisch ab, man schickte die Superreichen sowie die Katastrophenverursacher ohne Rückflugkarten zur benachbarten Galaxie der Hoffnung, die Zivilisation brach zusammen und unsere Erde stürzte etappenweise in einen vulkanischen Winter.

Wir wissen jetzt, wie es sich anfühlt, im Stich gelassen zu sein. Vor siebenunddreißig Jahren planten wir das Gleiche mit den zukünftigen Generationen zu machen. Einen Wüstenplaneten wollten wir der Nachwelt überlassen. Aber sieh uns an - wir hocken hier auf einem Riesenschneeball und warten auf die Farben des Lebens, die hoffentlich bald wie Schneeglöckchen aus dem Boden sprießen werden. Sehr wahrscheinlich wird das nicht zu meinen Lebzeiten geschehen – macht nichts. Ich durfte verschiedene Szenarien des Klimawandels sehen – dafür bedanke ich mich bei den Göttern da oben!