Gefälschter Sauerstoff

Einsendung von Julia Jagoda, 20 Jahre

Als Rissa aufwachte, herrschte um sie herum vollkommene Dunkelheit.
Sie fühlte sich elend. Dabei umgab sie eine angenehme Temperatur, ein gut regulierter Luftdruck und eine beruhigende Geräuschlosigkeit. Alles um sie herum war genauso, wie es sein sollte. Rissa befand sich in einem System perfekter Bedingungen. In ihr wütete dennoch tobendes Chaos.
Als eine der angesehensten Ingenieurinnen ihrer Zeit war sie maßgeblich an der Entwicklung der Krankenstationen für die zweite Welt beteiligt gewesen, weshalb es pure Ironie gewesen war, dass sie kurz nach Fertigstellung ihres Projekts in so eine Einrichtung eingewiesen wurde.
Psychotraumatische Belastung hieß das Urteil, welches sie in den perfekten Raum einschloss. Realitätserkenntnis diagnostizierte sie sich selbst.

Rissa fühlte sich auf der Station hoffnungslos fehl am Platz und das, obwohl sie mit Millimeter genauer Präzision auf den Hologrammkonstruktionen des kuppelförmigen Gebäudes ihren Standort hätte angeben können.

Sie seufzte und ohne dass sie genau gewusst hätte, wo es sie hinzog, richtete sie sich still auf und verließ die mollige Wärme ihres Bettes. Auf Wunsch hätte sie nun Schlaftabletten erhalten, doch es ergab sich nun einmal so, dass Rissa sich schon lange nichts mehr von der Welt wünschte und so ging sie ziellos und barfuß über glatten Boden voran.

Bei Studien sekundärer Literatur war sie einmal auf den Begriff der Sterne gestoßen. Feine Zeichnungen waren dem Artikel angehängt worden. Winzig wirkende strahlende Punkte, die den Nachthimmel vor Hunderten von Jahren erhellten. Von diesen hatte Rissa sich bei der Nachtbeleuchtung des Komplexes inspirieren lassen. Ihre damaligen Kollegen waren dagegen gewesen. Diese ungleiche Platzierung der Lämpchen war ihnen zu verschwenderisch vorgekommen. Ressourcen mussten immerhin stets mit höchster Sorgfalt veranschlagt werden.
Als sich Rissas Blick nun auf die sich über ihrem Kopf hinweg wölbende Decke richtete, verriet diese, dass sich die Blondine dennoch hatte durchsetzen können. Endorphine auslösend, so hatte sie ihre Forderung begründen können und letztendlich einen Zuspruch erhalten, sodass nun die unzähligen Sensoren um sie herum jede ihrer Bewegungen vorahnten und schwache Lichtpunkte wie Sternschnuppen über ihren Kopf hinweg zu schweben schienen.

Echte Sterne hatte Rissa noch nie beobachten können, denn seit sie sich erinnern konnte, schob sich nur eine graue Wolkendecke über den Himmel, welche unheilvoll die krankheitserregenden Gase, die über ihrer aller Köpfe schwebten, erahnen ließ. Sie blickte hinaus und auch jetzt schien sich nur eine einfarbige, zähe Masse voran zu schleppen.
Heute plätscherte jedoch zusätzlich Regen fröhlich gegen die klaren Wände. Dass man nicht fröhlich war, wenn dieser sich über einen ergoss, wusste sie nur zu gut. Bei der Erinnerung an den kleinen Jungen, welchen sie letzte Woche in der Mensa gesehen hatte, jeder Zentimeter Haut vernarbt von den charakteristischen eingeätzten Brandblasen, strich sie sich schaudernd über ihre Arme.

Da forderte ein grünlich pulsierendes Licht zu ihrer Rechten ihre Aufmerksamkeit ein. Rissa runzelte die Stirn. Grünes Licht ergab keinen Sinn, es würde weder beim Einschlafen noch beim Aufwachen hilfreich sein können. Angetrieben von ihrem Unverständnis schritt sie dem Schein entgegen.
Rissa trat in die Mitte eines Raums, welcher in ihren Skizzen als Sauerstoffzentrale ausgeschrieben worden war, so viel wusste sie. Sie hatte jedoch nicht gewusst, wie die Botaniker diesen ausfüllen würden.
Um Rissa herum erstreckte sich ein Feld aus fluoreszierenden kopfgroßen Blättern, über die Wände hinweg rankten sich einzelne mutige Pflanzen empor und bildeten über ihr ein Dach aus schimmernden Grüntönen. Der Blätterbaldachin war so dicht, dass Rissa ihre Sterne nicht mehr sehen konnte. Hätte sie das erahnen können, hätte sie in diesem Raum keine Lichter anbringen lassen. Wie ineffizient, sie rümpfte die Nase.

Ganz sanft ließ sie ihre Handinnenflächen durch das gewachsene Meer fließen und bemerkte, wie die Pflanzen auf ihre Berührung zu reagieren schienen. Als würden sie sich nach Rissa sehnen, neigten sie sich allesamt in ihre Richtung. Rissa erstarrte. Der Erschaffer musste wohl einem ernsthaften Gotteskomplex verfallen sein. Wut, brennende Wut vernebelte ihr die Sicht und vertrieb nun jeden Gedanken an verstorbene Sterne.
Denn das Blättermeer war falsch. Nicht falsch wie die bunten Blumen aus Plastik auf den schmalen Nachttischen der Patienten, sondern falsch wie der Säureregen, falsch wie der graue Himmel, falsch wie die Tatsache, dass dieses Leben von Menschen entwickelt werden musste, weil eben der Mensch natürliches Leben ausgerottet hatte. Welch ein kranker Versuch, den Fehler wieder gut zu machen. Als wäre das überhaupt möglich.
Tränen stiegen ihr brennend in die Augen und Rissa begann zu schreien. Sie schrie ihren Frust über dieses gezüchtete Leben hinaus, welches ihren Unmut ja eigentlich auch nicht verdiente und da schrie sie weiter darüber, dass sie bereitwillig Teil des Problems gewesen war.

Anstatt eine zweite Welt zu erschaffen, hätte sie die erste retten sollen. Rissa schrie weiter, bis ihre Kehle schmerzte und ihr versicherte, dass sie genug geschrien hatte und doch schrie sie weiter. Weiter, bis zwei Pfleger sie schließlich fanden und an den Oberarmen fixierten.

„Gleich wird es einfacher.“, versprach der Breitschultrige von beiden.
„Konzentrieren Sie sich auf positive Dinge. Sie haben diese Station erschaffen. Sie haben Leben ermöglicht!“, versuchte es der Zweite.
Ein kurzer Stich in den linken Arm und dann Erleichterung. Während Rissa zu Boden glitt wie die ersten Sonnenstrahlen, welche sich gerade durch die Wolkendecke zwangen, spürte sie die sich anbahnende Ohnmacht. Licht ließ die Metallfassungen der klaren Wandpaneele funkeln, zeitgleich verfolgte sie nur ein letzter Gedanke in die Bewusstlosigkeit.
Rissa hatte kein Leben ermöglicht, sondern einen Käfig geschaffen.