Das Maß aller Dinge

Einsendung von Clara Sarnthein (15) und Marisa Caluori (16)

Es war einmal in einem nicht allzu fernen Land eine eigensinnige Prinzessin, die in einem prachtvollen Schloss wohnte. Die Türme ragten himmelhoch über das Königreich empor, die Fassade war mit Rosen und Efeu überzogen, die goldschimmernden Dächer blendeten einen schon fast. Eine Allee, gesäumt mit uralten Kastanien, führte durch den Schlossgarten, in dem die Brunnen sprudelten, die Blumen in allen Farben leuchteten und das Gras so üppig aus dem Boden spross, dass man meinen konnte, man sei im Garten Eden. Ein mächtiges, mit Holzornamenten verziertes Tor gewährte Zugang zum lichtdurchfluteten Innenhof. Die Hallen waren riesig und die Festbänke endlos lang. In den Gängen wachten glänzende Ritterrüstungen und in den Bädern schmückten antike Statuen die Badelandschaft. Doch die Gemächer der Prinzessin übertrafen alles: Ein Himmelbett aus Elfenbein mit Bettwäsche aus zarter Seide boten ausgiebig Platz für ihren Schönheitsschlaf und ein majestätischer Kamin, in dem immerzu ein Feuer prasselte, sorgte für eine angenehme Wärme im Zimmer.

Doch wie so oft im Leben war die Prinzessin nicht zufrieden. Sie wollte mehr, mehr Farben, mehr Reichtum, mehr Besitz. Sie hatte nämlich von einem geheimnisvollen Zauberwald nahe der Bergkette südöstlich vom schlummernden See gehört, in dem es allerlei wertvolle Gegenstände gab. Doch nur das Wichtigste, das Schönste und das Prächtigste davon wünschte sich die Prinzessin: Ein silbernes Drachenei, dass angeblich heller funkelte als der schönste Edelstein, wertvoller als die 7 prachtvollsten Schlösser und älter als der weiseste Zauberer war. Sie war so besessen von ihrem Wunsch, dass sie an nichts anderes mehr dachte, von nichts anderem mehr sprach und sogar von nichts anderem mehr träumte. Besessen von ihrer Begierde, ließ sie überall bekannt geben, sie werde denjenigen, der ihr dieses Drachenei besorge, mit Reichtum überschütten und ihn in alle Ewigkeit ehren. «Dreht jeden Stein um, legt jede Axt an jede Wurzel, grabt in jede Höhle tief hinein und lasst jeden See bis zum Grund auslaufen, solange ihr mir nur mein Drachenei bringt. Wem dies gelingt, wird von mir reich belohnt werden. Nun, gehet hinfort und machet euch auf den Weg!», so sprach sie zu den jungen Männern und Frauen, die sich, verführt durch die Belohnung, aus der ganzen Welt vor dem Schloss der Prinzessin versammelt hatten. Sie brachen in den geheimnisvollen Zauberwald nahe der Bergkette, südöstlich des schlummernden Sees auf und nahmen die Prinzessin beim Wort: Wochenlang, monatelang, jahre- und jahrzehntelang durchkämmten sie den Wald, drehten jeden Stein um, legten jede Axt an jede Wurzel, gruben in jede Höhle tief hinein und ließen jeden See bis zum Grund auslaufen und austrocknen, doch das Drachenei ward nicht gefunden.

Währenddessen war die Prinzessin jedoch an einer mysteriösen Krankheit erkrankt und schnell wurde klar, dass diese gar schreckliche Seuche vor nichts und niemandem Halt machte: Ob jung oder alt, groß oder klein, reich oder arm, schön oder hässlich, jeden befiel sie und fesselte ihn ans Bett. In drängender Eile versuchte man die Menschen in aller Welt zu warnen und so erfuhren auch die Suchenden von dem Unglück. So schnell es ging, brachen sie ihre Suche ab und reisten zurück nach Hause, in der Hoffnung, ja nicht angesteckt zu werden. Über viele Jahre hinweg wütete die Krankheit ohne Zeichen der Linderung und der Wunsch der Prinzessin war beinahe in Vergessenheit geraten. Doch eines Morgens, als sich das Gesicht der Prinzessin in einem Silbertablett reflektierte, erinnerte sie sich schlagartig. Neu ergriffen von ihrem Traum, besserte sich der Zustand der Prinzessin plötzlich drastisch. Eine Entschlossenheit, das Ei zu erlangen, hatte sich in ihr breit gemacht und so entschied sie, sich selbst auf die Suche zu machen.

Mutterseelenallein trat sie aus dem Schloss. Keine Menschenseele war zu sehen, es herrschte Totenstille. Sie sprang anmutig auf ihre schneeweiße Stute und ritt ins Abenteuer hinein. Sie überquerte die Bergkette südöstlich des schlummernden Sees, ohne jegliche Rast und Ruh, bis sie in weiter Ferne die Baumwipfel des geheimnisvollen Zauberwaldes erkennen konnte. Mit frischem Mut gab sie dem Ross die Sporen und ritt in wildem Galopp, mit wehendem goldenem Haar, dem nun so nahen Ziel entgegen. Mit einem Strahlen in den Augen und einem breiten Lächeln im wunderschönen Gesicht näherte sie sich dem Zauberwald. Plötzlich wich ihr jedoch schlagartig alle Farbe aus dem Gesicht. Der Anblick, welcher sich ihr bot, war schauerlich. Soweit das Auge reichte, erstreckte sich ein furchteinflößendes Schlachtfeld von unzähligen toten Pflanzen, Blutflecken und in der Eile liegengelassenen Utensilien der Sucher. Das Bächlein plätscherte nicht mehr, wie einst, klar und munter, sondern lag trüb und dickflüssig da. Ein beißender Geruch ging von ihm aus und Fischkadaver schwammen auf seiner Oberfläche. Dort wo seinerzeit noch mystische Felsen aus dem Boden geragt hatten, waren bloß noch tote, beklemmende Löcher im Waldboden. Gewaltsam entwurzelte Bäume versperrten den Weg, von blumigen Wiesen war lediglich brauner Schlamm übrig, ganze Seen waren ausgetrocknet und wirkten nun düster und bedrohlich, wie leere Augenhöhlen. Jeglicher Zauber, der hier einmal geherrscht hatte, war zerstört.

Mit Schrecken erkannte die Prinzessin, welch fürchterliche Auswirkungen ihre maßlose Habgier auf den Wald und somit auch dessen Bewohner gehabt hatte. Ihre vor Schreck weit geöffneten Augen begannen sich mit Tränen zu füllen und schon lief ihr eine nach der anderen über die Wange. Sie weinte bitterlich und bereute ihre Taten. Nach einiger Zeit bemerkte sie durch ihren Tränenschleier ein kleines grünes Pflänzchen, das aus dem Erdboden gesprossen war. Je genauer sie hinsah, desto mehr von ihnen waren ersichtlich und die Prinzessin erkannte, dass der Wald seit Abbruch der Suche begonnen hatte, sich zu erholen. Langsam versiegten die Tränen der Prinzessin und ein Hoffnungsschimmer glomm in ihren Augen auf. In Klarheit darüber, dass nicht irgendein prunkvolles Drachenei das Wertvollste war, sondern wahrlich die Natur selbst, kehrte sie gefasst zu ihrem Schloss zurück. Und wenn sie nicht gestorben ist, dann lebt sie noch heute.