Die Jugend von heute

Einsendung von Lucia Rücker, 13 Jahre

Es ist Winter als Hermann das erste Mal von den lauten Rufen aus seinem Mittagsschlaf gerissen wird. Grummelnd macht er sich auf den Weg zum Fenster seiner Stadtwohnung, um zu schauen, was da unten auf den Straßen nun schon wieder los ist. Auf dem asphaltierten Weg hat sich eine Gruppe von mindestens fünfzig Kindern versammelt, die mit Plakaten und Megafonen durch die Stadt ziehen. Kopfschüttelnd beobachtet Hermann die aufgeregte Menge. Wie ein lärmender Hühnerhaufen bewegen sie sich an seinem Fenster vorbei, sodass sich alle möglichen Passanten nach ihnen umdrehen. „Die Uhr tickt!“ und „Save the planet!“ steht auf ihren Plakaten. Hermann wendet sich brummend vom Fenster ab. Die Jugend von heute… Nichts als Unsinn im Kopf. Sollten die nicht eigentlich in der Schule sein? Nun gut, das ist nicht sein Problem. Sollen sich doch die Eltern dieser aus dem Ruder geratenen Bande darum kümmern. Hauptsache er bekommt sein wohlverdientes Nickerchen. „Ruhe da unten!“, brüllt er nach draußen. Augenblicklich antwortet die Menge mit empörten Rufen. „Ihr zerstört unsere Zukunft!“ Hermann schnaubt nur und schließt das Fenster. Warum sollte er denn ihre Zukunft zerstören? Das tun sie schön selber, indem sie ihre Bildung verweigern. Das würde sicher Ärger geben. Zu seiner Zeit, da hatte man sich noch zu benehmen gewusst. Nachdem das Getrampel verklungen ist, lässt Hermann sich erneut auf das Sofa fallen und schaltet den Fernseher ein. „Heute sind wieder tausende Kinder unter dem Hashtag FridaysforFuture auf der Straße.“, erklärt der Nachrichtensprecher gerade, „Nicht nur in Schweden, sondern weltweit streiken sie für Klimaschutz und…“ Mit einem Ruck schaltet Hermann den Fernseher wieder aus. Kann man denn hier nie seine Ruhe haben? Fridays for Future, so nennen sich diese Wutgruppen also neuerdings. Sein Englisch reicht gerade so, um die Worte zu übersetzen. Muss er sich das jetzt also jeden Freitag anhören? Hoffentlich bekommt die Regierung diese Demonstranten bald wieder unter Kontrolle.

Doch auch am nächsten und übernächsten Freitag sind sie noch nicht verschwunden. Ganz im Gegenteil: Es werden immer mehr. Egal, wo man die Nachrichten einschaltet, überall ist von der neuen Bewegung zu hören. Langsam hat Hermann wirklich die Nase voll. In dieser Woche ist seine achtjährige Enkelin Joline zu Besuch. Noch ist alles ruhig und die beiden spielen zusammen Karten, doch Hermann weiß nur zu gut, dass es bald wieder losgehen wird. Immer das Gleiche, immer um dieselbe Uhrzeit. Lärmende Kinder, die sich für Weltretter halten. Gut nur, dass seine Joline nicht so eine ist. Und er behält Recht: Um Punkt zwölf stehen sie wieder auf der Matte, aber diesmal versucht Hermann, nicht darauf zu achten. Mit einem Ruck knallt er das Fenster zu, als die ersten Protestrufe erklingen. Doch die Geste bleibt auch bei seiner Enkelin nicht unbemerkt. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und späht hinunter. „Was machen die ganzen Kinder da, Opa?“, will sie verwirrt wissen. Dieser zuckt nur vage mit den Schultern. „Protestieren…“ Er will sich gerade wieder dem Spiel zu wenden, als ihn Joline am Ärmel zieht. „Wogegen denn?“, fragt sie weiter. Hermann zieht die Vorhänge zu und erklärt kurz angebunden: „Gegen die Regierung.“ „Aber warum?“ Hermann seufzt. War er als Kind auch so dickköpfig? Für Politik hat er sich jedenfalls nicht interessiert. „Weiß nicht.“, gibt er deshalb nur zur Antwort und es stimmt sogar. Trotzdem wirft seine Enkelin dem Fenster noch einen langen Blick zu.

So vergehen die Monate. Und auch nach einem Jahr ist es noch immer niemandem gelungen, die wildgewordenen Kinderhorden zu bändigen. Anstatt den Erwachsenen die Politik zu überlassen, sorgen die Protestierenden für immer mehr Aufsehen. Hermann ist fast schon froh, als die Coronapandemie Fridays for Future einen Strich durch die Rechnung macht und es eine Zeit lang still um die Bewegung wird. Auch seine Enkelin kann er dadurch aber über Monate hinweg nicht sehen.

Nach langer Forschung ist endlich ein wirksamer Impfstoff gegen Covid-19 gefunden worden. Natürlich freut Hermann sich darüber, doch andererseits weiß er nur zu gut, was die aufgelösten Beschränkungen mit sich bringen werden. Und so kommt es, dass sie am nächsten Freitag wieder da sind. Lauter und stärker als zuvor. Die Fridays for Future Gruppe hat er eindeutig nicht vermisst. Hermann will gerade die Vorhänge zuziehen, als er mitten in der Bewegung Inne hält. Er traut seinen Augen nicht, sieht noch einmal hin und was er dort unten erkennt, verschlägt ihm den Atem. Unter all den Wutbürgern und Chaoten steht niemand anderes als seine Joline.

Keinen Tag später sitzen die beiden zusammen. Hermann will gerade zu einer Standpauke ansetzen, als die Elfjährige ihm einen Finger auf die Lippen legt. Sie zieht ihr frisch erworbenes Smartphone heraus und hält es ihrem Großvater hin. Auf dem Display sind die schrecklichsten Szenen zu sehen. Brennende Wälder, Polarbären denen das Eis unter den Pfoten wegschmilzt, Dürren und Hungersnöte. Hermann sieht seiner Enkelin entsetzt in die Augen. „Wer trägt die Schuld daran?“ Joline zeigt erst auf sich selbst, dann auf ihn. „Wir alle.“, flüstert sie und ihre Stimme klingt viel zu ernst für ihr Alter, findet Hermann. Er kann nicht fassen, dass er für diese Zerstörung verantwortlich sein soll. „Das ist der Klimawandel, Opa.“, beantwortet Joline seine ungestellten Fragen, „Wir zerstören unseren Planeten, unser einziges Zuhause, immer weiter und hören nicht damit auf. Dagegen kämpfen all die nervigen Kinder. Auch ich. Weißt du noch, wie viel Spaß wir beim Schneemann bauen immer hatten? Du willst doch, dass auch ich ihn noch mit meinen Enkeln haben kann, oder?“ Heute ist Joline die Lehrerin. Und in Hermanns Kopf setzen sich all die Puzzlestücke zusammen, die er aus Nachrichten und Erzählungen kennt. „Aber ihr seid doch noch Kinder.“, murmelt er, „Erwachsene hören keinen Kindern zu.“ Joline lächelt leicht. „Sie werden uns schon zuhören, wenn wir nur laut genug sind.“

Autorin / Autor: Lucia Rücker