Düsterer Traum

Einsendung von Elisa Buhr, 22 Jahre

Die grünen Kronen der alten Bäume wiegten sich im Wind. Eine junge Frau mit feuerroten Haaren saß zwischen den Wurzeln einer Eiche und las gebannt in einem dicken Buch. Ganz in der Nähe strömte ein Fluss vorbei und auf der anderen Seite des Gewässers sah die Welt mit der grauen Autobahn voller winzig erscheinender Fahrzeuge fast farblos aus. Die Frau fuhr erschrocken zusammen, als sie auf das Ziffernblatt ihrer Armbanduhr sah. Rasch packte sie ihre Sachen, setzte sich ihren froschgrünen Helm auf ihre wilden roten Locken und schwang sich auf ihr buntes Rad. Sie liebte das Gefühl der Freiheit, das sie beim Fahren verspürte. Der warme Sommerwind strich neckend über ihre mit Sommersprossen bedeckte Haut. Da erschien plötzlich wie aus dem Nichts ein Auto vor ihr. Sie hatte keine Zeit mehr auszuweichen. Sie wurde durch die Luft geschleudert und kam mit einem dumpfen Laut auf dem Boden auf. Dann war es, als ob sie wie eine Beobachterin auf ihren kleinen Körper hinabschauen würde. Das Letzte, was sie sah, war, wie sich ihre grünen Augen ein letztes Mal schlossen.

Sie blinzelte in künstliches Licht. Irgendetwas bedeckte ihr Gesicht. Panisch tastete sie es ab. Da war eine Atemmaske. Sie erkannte den Ort nicht, an dem sie war. Die Wände waren schmutzig grau. Das Bett, auf dem sie lag, war alt und die Laken waren aus einem kratzigen Stoff. Verwirrt richtete sie sich auf und sah sich um. Der Raum war klein und kalt. Sie versuchte, die Gasmaske abzunehmen, aber diese saß zu fest. Sie bekam das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Ihr Herz hämmerte schneller in ihrer Brust. Sie bemerkte, dass sie fremde, alte Kleider trug. Ihre Kehle war staubtrocken. Sie suchte nach Wasser, fand aber keins. Da war nur ein übelriechender Porzellantopf unter dem Bett. Sie ging zur einzigen Tür im Raum und war beinahe überrascht darüber, dass sie sie öffnen konnte. Sie war völlig verwirrt. Dieser Ort machte keinen Sinn. Sie konnte sich nur noch an das Auto erinnern, an den Aufprall, an den schönen Sommertag. Doch hier war alles grau und kalt. Sie trat auf einen düsteren Gang hinaus. Sie schob die Hände in die Taschen ihrer Jacke, um sich aufzuwärmen. Der Gang war trist und unglaublich dreckig. Müll bedeckte den Boden. Sie hörte ein paar Ratten im Dreck rascheln. Keine Fenster, so wie in dem kleinen Raum, in dem sie aufgewacht war. Das gelbe Licht der Deckenleuchten flackerte heftig. Alles wirkte so entsetzlich verlassen. Sie kniff sich in den Arm, um sich davon zu überzeugen, dass das alles auch kein Traum war. Aber sie war wach. Sie begann zu rennen. Es war ein Labyrinth aus ausgestorbenen Gängen, durch das sie dahinstürmte. Sie rannte schneller und schneller, bis sie nicht mehr konnte. Endlich sah sie eine Spur Tageslicht. Sie eilte darauf zu und erstarrte. Erschrocken presste sie eine Hand auf den Mund und schluckte schwer. Vor ihr war ein riesiges Fenster, so groß wie eine Zimmerwand. Sie trat näher heran und legte ihre Hand auf das kühle Glas. Die Welt dahinter war ein Gemisch aus düsteren Farben. Ein gräulicher Nebel hing über den gewaltigen, dunklen, baufälligen Gebäuden. Gelbliche Scheinwerfer brachen durch den Nebel. Die Sonne war milchig bleich und ihr Licht schummrig und schmutzig. Es gab kein Grün. Gehetzt wanderte ihr Blick über diese düstere Welt. Auf Straßen weit unter ihr sah sie unzählige Menschen. Eine Träne tropfte auf ihre Plastikmaske. Sie verschränkte die Arme fest über der Brust und kauerte sich ganz klein am Rand des Fensters zusammen. Sie kniff ihre Augen zusammen und wünschte sich verzweifelt, dass sie aufwachen würde, dass das alles nicht real wäre. Aber als sie die Augen wieder öffnete, hatte sich nichts verändert. Sie sah im Spiegel das Gesicht einer Fremden mit Gasmaske und wich erschrocken zurück. Die Fremde hatte dunkelbraune Locken. Ansonsten aber war sie ihr ungeheuer ähnlich. Sie erkannte sich in den grünen Augen, der bleichen Hautfarbe, dem kleinen Körper.

„Wer bist du?“, fragte sie heiser in die Stille und berührte ihr Spiegelbild. Da fiel ihr Blick auf eine Treppe und sie stürmte hin. Es waren unzählige Stufen, die sie immer schneller und schneller hinabrannte. Ihre Beine fühlten sich taub an, als sie endlich am Ende des Treppenschachtes angekommen war. Sie trat in die Welt hinaus. Es war kalt und dunkel. Die Menschen hatten eingefallene, ausgemergelte Gesichter. Verstört starrte sie in die traurigen, hoffnungslosen Mienen. Sie versuchte krampfhaft, ihre Tränen zurückzuhalten. Langsam begann sie zu begreifen, was hier los war. Sie war in einer düsteren Zukunft und war im Körper einer Fremden und doch nicht Fremden gefangen. Eine Erinnerung kam in ihr auf. Sie hatte zu einem wunderlichen grünen Ding hinaufgestarrt, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Es hatte wunderschön ausgesehen.

„Was ist das?“, hatte sie gefragt. „Das ist ein Baum“, hatte eine sanfte Stimme neben ihr gesagt und sich liebevoll zu ihr hinabgebeugt, das Gesicht zur Hälfte unter einer Gasmaske verborgen. Sie hatte in die freundlichen grünen Augen ihres Vaters geblickt und seine roten Locken betrachtet. „Einst gab es viele von diesen Bäumen. In den unterschiedlichsten Formen und Farben und so vieles mehr. Deine Großmutter, meine Mutter, gehörte der letzten Generation an, die die Welt noch hätte retten können.“ Die Erinnerung verblasste und sie erstarrte. Der Mann hatte ihr dermaßen ähnlich gesehen. Sie erkannte, dass sie diese Großmutter war, und sie hatte das Gefühl, als ob sich der Boden unter ihren Füßen auftun würde. Die düstere Zukunft um sie herum löste sich auf und sie fiel in ein tiefes, dunkles Loch.

Sie blinzelte in weißes Licht. Sie erinnerte sich an den Unfall und begriff, dass sie sich in einem Krankenhauszimmer befand. Die Gasmaske war verschwunden und die Luft war sauber. Die düstere Zukunft war ein dunkler Traum gewesen. Durch ein Fenster sah sie einen wunderschönen Baum. Sie lächelte, weil sie erkannte, dass es noch Hoffnung gab. Die Zukunft war noch nicht in Stein gemeißelt.

Autorin / Autor: Elisa Buhr