Komm, wir machen die Nacht zum Tag

Einsendung von Tammy Schmidt, 21 Jahre

Draußen ist es noch hell, eigentlich viel zu früh, um aufzustehen. Doch das penetrante Klingeln des Weckers holt mich aus dem trüben Schleier meiner Träume. Die Tomaten-Fabrik, bei der ich seit Kurzem arbeite, beginnt ihre Arbeit bereits um 18.30 Uhr in der Früh, und während der Großteil der Welt noch seelenruhig schlummert, quäle ich mich aus dem Bett. Schlaftrunken öffne ich meinen Kühlkasten. Das Schloss klemmt manchmal, aber ein neues Bett kann ich mir nicht leisten. Ich schlurfe ins Bad und gönne mir eine lange kalte Dusche. Ich weiß, dass die Wasserpreise schon wieder gestiegen sind und ich sparsamer sein sollte. Aber in der Nachtzeitung habe ich gelesen, dass sie über Wasserkontingente für private Haushalte diskutieren. Wer weiß, ob man mir die Dusche also sowieso bald automatisch abdreht. Ich schlüpfe in Jeans und T-Shirt und koche mir einen Kaffee. Wie meistens bin ich spät dran, schlucke eilig ein paar Bissen Brot und eine Vitamin D-Tablette herunter. Bevor ich das Haus verlasse, schaue ich kurz ins Zimmer meiner Mutter. Gesicht und Körper sind völlig regungslos, sie sieht müde aus, obgleich sie schläft. Ich stelle ein Glas Wasser neben ihr Bett, zusammen mit den Medikamenten. Ich streiche ihr über das dünne Haar. Früher war es heller, vor allem wenn im Sommer die Sonne und das Salzwasser ihren Kopf beinahe honigblond färbten, während sie stundenlang im Meer mit uns spielte, das Gesicht voller Lebensfreude. Jetzt ist ihr Haar aschfahl und die Depressionen sind in jede Zelle ihres Körpers vorgedrungen. Mein Vater meint, es sei das künstliche, grelle Licht, dass niemals das Gefühl warmer Sonnenstrahlen auf der Haut ersetzen könnte. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn und schleiche mich aus dem Haus, noch bevor mein Vater nach Hause kommt. Meinen Vater bekomme ich überhaupt nur noch selten zu Gesicht, seit er einen Job angenommen hat, bei dem er tagsüber arbeiten muss.

Untertags ist es eigentlich unerträglich schwül und viel zu heiß zum Arbeiten, aber den Sonderzuschlag für Tagarbeit können wir momentan gut gebrauchen. Seit meine Mutter nicht mehr arbeiten kann, ist die finanzielle Lage angespannt. Meine Aushilfsstelle ist zum Glück passabel bezahlt, weil sich die Tomatenbranche im Gegenzug der meisten anderen Lebensmittelbranchen ganz gut hält. Für viele Gemüsesorten ist es zu heiß geworden, sodass sie unter eingeschränkter Bewässerung verdorren. Dafür erobern chemische Großkonzerne den Markt mit speziell angereicherten Pasteten.

Es ist jetzt sieben Jahre her, seit die Welt ihr System auf den Kopf stellte und die Nacht zum Tag machte. Vor allem im Sommer wurde es furchtbar heiß, sodass normales Alltagsleben zunehmend erschwert war. Die Menschen wurden langsamer, träger, unproduktiv. Vom frühen Vormittag an wandelten sich die Straßen in Geisterstädte. Die Temperaturen stiegen schlichtweg ins menschlich Unerträgliche. In einer globalen Task Force einigte man sich schlussendlich auf das Nacht-Modell. Die Welt sollte wieder zum Leben erweckt werden, moderne Technik erleichterte die Anpassung an das Leben bei Nacht.

Heruntergekühlte Schlafkästen ermöglichen einen friedlichen Schlaf. Es fühlt sich jedes Mal so an, als würde ich in einen Sarg steigen. Es sind vermutlich Teile meines früheren Lebens, die jeden Tag ein bisschen mehr sterben. Langsam verblassen die Erinnerungen endgültig. Mir fehlen vor allem die kleinsten der Kleinigkeiten, deren Schönheit man erst in ihrer Abwesenheit zu schätzen lernt. Wie der Anblick von Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch dichtes Blätterdach bahnen. Aber früher schienen andere Sachen vermeintlich wichtiger.

Es ist ja nicht so, als hätten die Wissenschaftlerinnen uns nicht gewarnt. Aber dass es so schlimm werden würde, konnte doch keiner wissen, oder? Ein übertriebenes Albtraum-Szenario, das so weit weg schien und nicht zu greifen war. Doch jetzt ist der Albtraum zur Realität geworden. Und kommt jede Nacht wieder.