Wir haben es in der Hand

Einsendung von David O‘Neill, 25 Jahre

»Papa?«, höre ich Sophie aus dem Wohnzimmer rufen. »Papa!«.
»Was ist denn, mein Schatz?«.
»Komm mal«.
Ich räume die letzte Gabel aus der Spülmaschine in die Schublade und gehe ins Nachbarzimmer. Sie liegt bäuchlings auf dem Sofa und hat den Atlas, den sie am Vortag zum zehnten Geburtstag bekam, vor sich auf dem Teppich aufgeschlagen.
»Hast du nicht so langsam mal Hunger?«, frage ich. Es ist mittlerweile siebzehn Uhr, sie hatte sich – meines Wissens – seit zehn nicht mehr bewegt.
»Nein«, sagt sie. Nach einigen Sekunden fügt sie an: »Warum soll ich denn überhaupt noch essen, wenn wir bald eh alle tot sind?«.
»Wie meinst du das?«, frage ich erstaunt. »Zeig mal her«.
»Hier, guck. Das ist ein Vergleich. 2000, also vor fünfunddreißig Jahren, sah es noch so aus«. Sie deutet auf eine Darstellung der arktischen Eismassen, für das jeweilige Jahr verschiedenfarbig gekennzeichnet, und sieht mich an.
»Und so sieht es jetzt aus, also nicht jetzt, sondern letztes Jahr. Jetzt ist es wahrscheinlich noch schlimmer«. Ich sehe mir die Darstellung genauer an und weiß nicht recht, was ich sagen soll. »Hier steht«, fährt sie fort, »dass dadurch die ganze Welt durcheinandergebracht wird, weil das mit dem Wind nicht mehr richtig funktioniert und der Temperatur. Und meine Freundin Karla sagt, dass ihr Papa gesagt hat, dass wir eh sterben, wenn das so weitergeht«.
Sie sieht mich forsch an. »Also nein, ich hab’ keinen Hunger«.
»Gibt gleich trotzdem Abendessen«. Ich streiche ihr durchs Haar und gehe wieder in die Küche. Sie hat Recht, denke ich, und es wird nur noch ein paar Tage dauern, bis sie bemerken wird, dass meine Generation und die ihrer Großeltern die Schuld dafür tragen.
Tatsächlich dauert es nur etwa zwei Stunden.

Ich habe den Tisch gedeckt, mit Roggenbrot, gekochten Eiern, geschnittenen Tomaten, Gurkenscheiben, zwei verschiedenen Käsesorten und einer guten Pfeffersalami, und esse gerade meine dritte Scheibe. Sophie rührt ihren Teller kaum an.
»Leg’ doch mal das Buch weg«, sage ich leicht genervt.
»Papa, hier steht, dass man schon seit über vierzig Jahren weiß, worauf wir uns zubewegen, und dass einfach nicht genug unternommen wurde«. Sie liest vor: »’Bereits im Jahr 1990 ist hinreichend erforscht worden, dass die Lebensweise der modernen Gesellschaften nicht mit einem verantwortungsbewussten Umgang mit den endlichen Ressourcen einhergehen kann’«. Mit offenem Mund lässt sie das Buch sinken und sieht mich an. »Warum hat man seine Lebensweise nicht einfach geändert?«.
»Schatz, das ist alles nicht so leicht. Da hängen Millionen Menschen dran, vor allem aber Milliarden Euro. Es ist immer eine Frage des Geldes«.
»Was ist denn wichtiger als das Leben?«. Sie schreit schon fast und liest mit vibrierender Stimme weiter. »’Ein großer Teil hätte verhindert werden können, wenn weltweit der Konsens geherrscht hätte, auf tierische Produkte und weite Reisen zu verzichten.’ Warum essen wir das alles überhaupt noch?«.

Wütend steht sie auf, nimmt die drei übrig gebliebenen Eier aus der Schüssel in der Mitte des Tischs und schmeißt sie in den Müll. Das gleiche Schicksal ereilt die Salami, den Käse und die Milchpackung aus der Kühlschranktür. Sophie weint und schreit mich an.
»Du bist Schuld, dass ich sterbe, Papa!«. Sie wütet durch die ganze Küche und reißt alle Schränke auf, alle Türen und Schubladen, und wirft so gut wie alles auf den Küchenboden. Ich sitze apathisch am Tisch und sehe ihr dabei zu, gelähmt und unfähig, etwas zu unternehmen.

»Ich werde sterben wegen dir, alle meine Freundinnen werden sterben, alle Kinder, alle Erwachsenen, ist es das, was du willst? Willst du das, Papa? Hasst du uns so sehr?«. Nun kullern auch aus meinen Augen Tränen. »Jetzt ist es zu spät zu heulen, Papa. Du hast versagt, deine ganze Generation hat versagt, ihr Mörder«.
Mir fällt nichts besseres ein, als Sophie zu sagen, dass auch ich damals auf Fridays-for-Future-Demonstrationen mitgelaufen bin, mit einem Schild in der Hand, auf dem »Grünkohl statt Braunkohle« stand, doch sie lacht nur hämisch. Der Kohleausstieg sei auf 2060 verschoben worden, sagt sie, und außerdem haben wir noch nie zusammen Grünkohl gegessen.
»Du bist ein Heuchler, Papa. Ein ekliger, opportunistischer Heuchler. Wie war das, als wir vor fünf Jahren nach New York geflogen sind? Wieviel hast du als CO2-Ausgleich gezahlt? Sechs Euro? Stark, Papa. Ganz stark. Das kompensiert nichtmal den blöden Burger am Flughafen, schön mit extra Bacon. Du widerst mich an, Papa. Ich habe noch nie in meinem Leben Schnee gesehen, außer, als wir mit deinem verdammten Diesel durch die Alpen gefahren sind«.
Sie steht nun vor mir, die Haare tief im tränenüberströmten Gesicht, und sieht mich abschätzig an. »Du hast mich umgebracht, Papa. Du«. Ihr Gesicht verschwimmt, sie sinkt zu Boden.

Schweißgebadet und schwer atmend wache ich auf, mein Herz pocht.
Ich richte mich auf, gehe in die Küche meiner Einzimmerwohnung und werfe einen Blick in den Kühlschrank. Eine Packung Eier, Salami, Käse, Milch. Mein Autoschlüssel auf der Kommode daneben.
Ich bin nie eine unbewusst lebende Person gewesen, zumindest rede ich es mir bei jeder Gelegenheit ein. Mein Alltag sieht allerdings anders aus, ich entscheide mich zu häufig für den einfachen Weg, den praktischen, unachtsamen. Das Jahr 2020 ist ein Scheideweg, die Gabelung zwischen Dunkelheit und Zukunft, zwischen Überfluss und Genügsamkeit, zwischen kurzfristiger Befriedigung und der Aussicht auf Leben.
An diesem Tag fasse ich einen Entschluss. Sophie existiert nicht, noch nicht, aber ich möchte, dass sie irgendwann geboren wird. Ich möchte, dass sie ein gutes Leben hat, ein langes, erfülltes, gutes Leben. Zwar bin ich nicht der einzige, der darauf Einfluss nimmt, aber immerhin ein kleines Zahnrad, das nur nah genug an die anderen herankommen muss, um sie mitzureißen.
Das Schiff steuert auf einen Eisberg zu, doch anstatt einzulenken, arbeiten wir daran, dass er schmilzt. Das Steuerrad ist ganz nah, worauf warten wir?
Wir haben es in der Hand.