Das Wüstenkind

Einsendung von Mirjam Abramowski, 22 Jahre

Der Sand schlug ihr trotz der Tücher unnachgiebig ins Gesicht. Es war zwar noch kein ausgewachsener Sandsturm, aber der Wind raubte ihr dennoch fast den Atem. In der Ferne, vielleicht noch einen halben Tagesmarsch entfernt, standen die hohen, verlassenen Bauten einer ehemals reichen und florierenden Großstadt. Wie zertrümmerte Zähne ragten sie aus einem sandigen Schlund.
Ein paar Tage war es jetzt her, dass sie ihre Familie verloren hatte. Gemeinsam waren sie Richtung Norden aufgebrochen, nachdem ihrem Dorf zum vierten Mal in Folge ein kompletter Ernteausfall drohte. Das Wasser hatte einfach nicht gereicht.
Für eine Sekunde verlor sie die Kraft in ihren Beinen. Sie fing sich und wischte trotzig den Sand aus dem Gesicht. Sie durfte nicht stehen bleiben.
Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass es im Norden sogar Wasser gab, das vom Himmel fiel und ganze Landschaften so reich machte, dass sie über und über mit Grün bedeckt waren. Er träumte häufig vom Norden. Nur einmal hatte sie ihn ähnlich über ihre Heimat sprechen hören. Sie war damals zehn gewesen und hörte erstaunt zu, wie er über Zeiten redete, an die sie nicht glauben konnte. Von einer Ära, in der es unzählige Menschen gab, die miteinander arbeiteten und in der immer für Essen und Trinken gesorgt war. Er hatte von Riad geschwärmt, einer Stadt des Fortschritts und des Wohlstands. Nahrung und Wasser waren kein Zeichen für Reichtum mehr, stattdessen trugen die Menschen edle Kleidung und teuren Schmuck, um ihren Luxus zu demonstrieren.
Während sie diesen Erinnerungen nachhing, rückten die verlassenen Hochhäuser der Stadt näher. Bald zog sie an den Türmen einer alten Festung vorbei, die noch knapp aus dem Sand ragten. Vorbei an einem weiteren Turm, dessen diamanten anmutende Spitze durch die Stürme der letzten Jahre erblindet war. Immer weiter geradeaus ging sie, den Blick stur auf das Hochhaus gerichtet, dessen gewölbte Fassaden Zeugen vergangener Zeiten waren.
Seit Stunden war sie unterwegs, ihr Körper lechzte nach einer Pause. Ihr Ziel war kaum einen halben Kilometer entfernt, als sie zusammenbrach. Es ging keinen Meter mehr voran. Die unterdrückten Schmerzen und die Verzweiflung über den Verlust ihrer Familie brachen über sie herein. Ihr Körper krampfte unter trockenen Schluchzern. Niemand hörte sie.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie ein gläsernes Gebäude vor sich. An einigen Stellen hingen schmutzige Stoffreste herab. Ein Fenster war kaputt. Vorsichtig kroch sie darauf zu und betastete die Ränder. Der Sand hatte ihnen die Schärfe genommen. Halb kriechend, halb taumelnd fiel sie in das Gebäude.
Als sie Stunden später aus einem komatösen Schlaf erwachte, brannte Durst wie Feuer in ihrer Kehle. Ihr Beutel gab keinen Tropfen mehr her. Benebelt strich sie durch das Gebäude, wankte Treppen hinunter bis es nicht mehr weiter ging. Ihr Körper gab ein halb ersticktes Lachen von sich, als sie realisierte, was sie vor sich sah. Wassertanks.
Das Wasser schmeckte alt und abgestanden. Es war das Beste, was sie je zu sich genommen hatte. Sie trank vorsichtig, damit ihr Körper das Wasser bei sich behielt und füllte ihren Beutel zum Bersten voll. Ihr Kopf wurde klarer.
Wieder in den oberen Stockwerken fiel ihr auf, dass sie von Büchern umgeben war. Ungläubig strichen ihre Finger über die Rücken. Es war das erste Mal, dass sie welche sah. Dabei hatte sie noch das Glück gehabt, dass es in ihrem Dorf jemanden gegeben hatte, der ihr Lesen und Schreiben beigebracht hat. Stundenlang hatten sie abends draußen gesessen und die Zeichen in den abkühlenden Sand gemalt.
Ein Buch mit dunkelgrünem Rücken erregte ihre Aufmerksamkeit. „Die Zukunft, die wir nie hatten“ war in weißen Buchstaben darin eingeprägt. Es musste schon ein paar hundert Jahre alt sein. Die Trockenheit und sein geschützter Standort hatten es vor der Zerstörung bewahrt.
Sie glitt am Bücherregal hinab und genehmigte sich noch einen Schluck aus ihrem Beutel. Sie spürte das raue Papier unter ihren Fingern und atmete den staubigen Geruch des alten Buchs.
Seine Seiten entführten sie in eine Welt, die sie nie erträumt hätte.
Vor ihrem Auge entstanden belebte Großstädte, deren altes Dasein als Betonwüsten einem wechselnden Muster aus Bäumen, Grünflächen und Solarzellen gewichen war. Felder und Wälder, Flüsse und Ozeane, deren sprudelndes Leben vorsichtig bewahrt wurde. Menschen, die über alle Grenzen hinweg für Gemeinschaft und Nachhaltigkeit arbeiteten. Eine Welt in Freiheit und Frieden, Zusammenarbeit und Wohlstand. Die gemeinsame Errichtung einer neuen Gesellschaft, zum Schutz dessen, was nicht verloren gehen darf. Ein Leben im Gleichgewicht.
Die Geschichte ihres Vaters über die vergangene Zeit war tatsächlich wahr gewesen. Ihre Augen brannten, als sie begriff, was das bedeutete. Jahrzehntelang hatten die Menschen gewusst, was sie hätten erreichen können und was auf dem Spiel stand, sollten sie scheitern.
Betäubt las sie von der Untätigkeit und der Entscheidung der Reichsten, ihr Glück auf einem anderen Planeten zu suchen. Sie hatten sie im Stich gelassen. Warum hatte ihr Vater ihr das nie erzählt? Hatte er es gewusst?
Sie spürte einen Stich im Herzen, als sie Begriff, dass diese Zukunft ihr hätte gehören können.
Mit einem Schrei warf sie das Buch durch den Raum, der Aufprall hallte von den Wänden wider. Blind vor Benommenheit und Enttäuschung trat sie um sich, riss Bücher aus den Regalen, bis sie vor wütender Erschöpfung auf den Boden sank und das Gesicht in den Händen vergrub. Dieses Mal rannen Tränen über ihre Wangen.
Sie wusste nicht, wie lange sie so saß. Aber irgendwann spürte sie, wie die Wut und Frustration in ihrem Herzen begannen, etwas Neues zu bilden. Eine trotzige, unbeirrbare Stimme, die den Untergang nicht hinnehmen wollte. Ihr Blick schweifte aus dem Fenster.

Die Spuren, die ihre Füße im Sand hinterließen, wiesen nach Norden. Das Buch zeichnete sich rechteckig unter ihrer Kleidung ab.
Sie würde sich ihre Zukunft zurückholen.

Autorin / Autor: Mirjam Abramowski