Ein verlorener Kampf?

Einsendung von Johanna, 22 Jahre

Alles ist von Schnee bedeckt. Auch Wolkes Gefühle scheinen wie unter einer eisigen Schicht begraben. Seit Wochen nun hat sie alles gegeben. Aber was hat es letztendlich genutzt? Heute sollen die letzten Bäume fallen. Wolke weiß noch genau, wie sie zum ersten Mal in diesen Wald gekommen ist. Damals hatten die Rodungsarbeiten noch nicht begonnen, auch wenn der Termin wie ein dunkler Schatten über ihnen hing. Im Wald konnte sie alles vergessen. Doch heute ist kaum etwas davon übrig. Die Erde ist nackt und aufgewühlt, hartgefroren ohne den schützenden Mantel aus Laub. Heute soll es zu Ende gehen. Ein letztes Mal kämpfen. Mit ein paar der wenigen Verbliebenen bezieht Wolke Posten. Geschickt erklimmen sie einen der Bäume. Obwohl die Sonne schon halb hinter dem Horizont erschienen ist, hängt immer noch der Mond am blassen Himmel. Rosarot, taubenblau, nebelweiß. „Sie kommen“, wispert Hirsch neben ihr. Wolke nickt nur stumm. Natürlich kommen sie. Unwillkürlich tastet sie nach Hirschs Hand. Er erwidert den Druck und wirft ihr einen langen Blick zu. Er, der immer einen fröhlichen Spruch auf Lager hatte, er, der stolze Hirsch ist nun auch gebrochen. Stumme Tränen fließen. Wolke schluckt und wendet das Gesicht ab. Am Anfang haben sie sich noch unterhalten, gesungen, geschrien. Aber nun fehlt ihnen die Kraft. Zu lange haben sie gekämpft und zu viel verloren. Sie sind noch da, aber ihre Zuversicht, ihre Hoffnung und ihr Ansporn sind Baum für Baum, Tag für Tag geschwunden. Wolke hat sich noch nie so hilflos gefühlt.

Unten stehen die ersten Polizist_innen. Sie sehen aus, als würden sie in den Krieg ziehen, mit dicken Westen, Helmen und Schilden. Für Wolke war die Gewaltlosigkeit eine der wichtigsten Prinzipien. Sie wollte sich nicht selbst verlieren, in diesem verlorenen Kampf. Außerdem machen diese Menschen nur ihren Job. Vielleicht könnte mehr Reflexion, mehr Rebellion erwartet werden, aber Wolke weiß selbst nicht mehr so richtig, was richtig und was falsch ist. Alles ist… gekippt, durcheinander. So wie die Baumstämme, die tot am Boden liegen, nur wenige Meter von ihnen entfernt. Heiligt der Zweck die Mittel? Wie weit will sie gehen? Wie weit darf sie gehen? Die ersten Kletter_innen kommen hinauf. Hirsch drückt Wolkes Hand so fest, dass es weh tut. Aber der Schmerz ist gut, wenigstens ist er überhaupt ein Gefühl in ihrem ansonsten betäubten Körper. Sie ist die Letzte, die aus der Baumkrone befördert wird. Keine Freude, kein Schmerz, kein gar nichts. Nur Leere. Lange werden sie befragt, während in Sichtweite die letzten Bäume zu Fall gebracht werden. Andere Menschen sind inzwischen auch hier, schreien bis sie heiser sind, weinen, fluchen. Wolke hat einfach keine Kraft mehr. Endlich darf sie gehen. Die Bäume liegen am Boden. Die Schneise der Zerstörung ist vollständig.

In der Ferne verschwindet die Sonne als roter Feuerball hinter dem Horizont. Und jetzt strömen die Tränen doch noch einmal. Eine Hand legt sich auf Wolkes Schulter. „Es ist noch nicht vorbei“, sagt Hirsch. Sie schaut zu ihm. Seine Miene ist traurig, aber entschlossen. „Nicht vorbei?“, wiederholt Wolke. Unbändiger Zorn steigt in ihr auf. Sie stößt ihm mit den flachen Händen vor die Brust, so dass er zurückstolpert. So viel Wut! So viel hilflose, verdammte Wut. „Siehst du nicht, was sie angerichtet haben? Wir haben versagt!“, schreit Wolke Hirsch an. Dessen Gesichtszüge wanken, als ihm eine weitere Stimme zur Hilfe kommt. „Er hat recht. Es ist noch nicht vorbei“, sagt diese ruhig. Wolke wirbelt herum. Hinter ihr steht eine Person, das Gesicht der untergehenden Sonne zugewandt. „Es ist vorbei“, zischt Wolke. Der Mensch deutet auf den Horizont. „Wird die Sonne morgen wieder aufgehen?“, fragt er ruhig. Wolke verengt die Augen zu Schlitzen. „Vielleicht“, meint sie schließlich. „Vielleicht?“, wiederholt die Person. Wolke seufzt. „Na gut, ziemlich sicher“, gibt sie zu. „Und werden wir morgen alle sterben?“, fragt die Person weiter. „Morgen vielleicht nicht, aber es ist nur noch eine Frage der Zeit“, prophezeit Wolke. „Eine Frage der Zeit. Aber: Ist es sicher?“, hakt der Mensch nach. Wolke zögert. „Nein“, lenkt sie ein. „Also: Es gibt noch Hoffnung?“, fragt er. Wolke schnaubt. „Eine verschwindend geringe.“ – „Aber es gibt sie.“ – „Ich habe sie nicht mehr“, sagt Wolke müde. „Die Natur… das Leben ist stark.“

Der Mensch dreht sich um und zeigt Wolke und Hirsch eine Eichel in seiner Hand. „Fälle einen Baum, aber er hat schon Tausende seiner Kinder in die Welt geschickt. Wir können das Wasser und die Erde, die Luft und den Himmel mit Gift vollpumpen, aber etwas wird immer überleben. Vielleicht nicht wir selber, aber irgendetwas. Und wenn die Zeit dieses Planeten doch eines Tages abläuft, wird es irgendwo da draußen noch weitergehen.“ – „Aber… es wird alles anders werden. Vielleicht werden die Kinder, die ich in die Welt setzen möchte, sich gegenseitig umbringen. Hunger, Dürre, Leid, Überschwemmungen… Es wird ein Massaker!“, haucht Wolke. Schon wieder treten ihr Tränen in die Augen. Zornig wischt sie sie weg. „Kein unrealistisches Szenario“, sagt die Person, den Kopf wiegend. Ihr Blick ist fest auf die Eichel gerichtet, als hätte sie alle Antworten parat. „Nicht unrealistisch, aber nicht sicher. Verstehst du, Wolke? Es. Ist. Noch. Nicht. Zu. Spät. Wir steuern auf einen Abgrund zu, auf den Tag des jüngsten Gerichts, wenn du so willst. Aber er ist noch nicht hier. Heute ist noch nicht der Tag. Wir haben es immer noch in der Hand. Nicht du allein, nicht ich alleine, aber wir. Der Wald hier, ist fürs erste verloren. Aber es wird schon über Aufforstung gesprochen. In den Medien wird darüber gesprochen. Auch über euch und euren Einsatz. Es war, es ist nicht umsonst! Verstehst du das?“ Sie schaut Wolke jetzt fest in die Augen. Wolke zögert. „Das stimmt. Du weißt es“, sagt Hirsch hinter ihr leise. Wolke atmet tief die klare, eisige Luft ein. „Der Kampf geht weiter. An anderer Stelle, in einer anderen Form. Und wir werden immer mehr. Wir müssen einfach“, sagt der Mensch. Das sind seine letzten Worte, dann verschwindet er zwischen den gefallenen Bäumen. Und im letzten Abendlicht kommt es Wolke einen Augenblick so vor, als wäre da wieder der unberührte Wald. Hirsch nimmt ihre Hand. „Komm, lass uns nachhause gehen“, fordert er sie sanft auf. Wolke nickt langsam. „Aber… es ist noch nicht vorbei, wir werden nicht aufgeben?“, versichert sie sich. Hirsch lächelt. In seine Augen ist das Funkeln zurückgekehrt. „Niemals.“