Gutenachtgeschichte

Einsendung von Christoph K., 18 Jahre

Verwirrt schwanke ich zum Fenster. Mein Kopf dröhnt vor Schmerz. Irgendwas ist anders. Ich kämpfe mich vor, an der Kommode vorbei, öffne ich die Jalousien. Das laute Krachen verschafft mir immer mehr Sicht. Doch wo ich das übliche Bild der Heimat erwarte, ist alles tot. Dort waren doch die Gärten der Nachbarschaft, die Beete entlang der Straße, auf der ich jeden Morgen zur Berufsschule fuhr. Der baufällige Spielplatz, auf dem die Natur die Überhand gewonnen hatte. Ja, selbst die große Eiche, die so ehrwürdig im Zentrum des Dorfes stand, scheint wie verschwunden. Ich reibe mir die Augen. Einige Male. Und doch erinnert dort nichts mehr daran. Nur noch Grau und Bleich. Eine entfärbte Welt.

Der enormen Hitze zum Trotz, die sich ihren Weg durch die Glasscheibe bahnt, drehe ich mich vorsichtig um. Da liegt jemand neben mir im Bett. Meine Frau? Ich fokussiere meinen Blick auf ein kleines Bild, das neben ihr auf dem hölzernen Nachtkästchen steht. Tatsächlich. Aber da ist noch etwas. Zwischen unseren Beinen entdecke ich ein Mädchen. Nicht älter als sechs, schätze ich.

Ich schleiche weiter, durch den Flur, bis ins Wohnzimmer, auf der Suche nach dem Fernseher. Er steht, wo ich ihn erwartet habe. Doch er wirkt größer. Auch einen Hauch schmaler ist er geworden. Leicht irritiert greife ich die Fernbedienung und erwecke ihn zum Leben. Es laufen Nachrichten. Perfekt. Erwartungsvoll starre ich auf den riesigen Bildschirm. 27.02.2047 plakatiert die obere rechte Ecke. Ich werde wie versteinert. Panische Angst zeichnet mein Gesicht. Was ist nur geschehen? Ich schaue weiter. Sie berichten von Naturkatastrophen, Hungersnöten, von der totalen Anarchie, als wäre es das Normalste der Welt. Meine Hand fängt an zu zittern. Wie in Trance gucke ich noch eine Ewigkeit weiter. Ich kann es kaum fassen. Was haben wir getan?

Durch einen Spalt am Fenster bemerke ich, wie es dunkel wird. Ich beschließe schlafen zu gehen. Gähnend führt mich mein Weg entlang alter Familienbilder, die Stufen hinauf, an einem Zimmer vorbei. Aus dem dunklen Raum heraus, beobachten mich zwei große Augen. „Papa…“, flüstert ein kleines Mädchen mir zu: „…erzählst du mir eine Gutenachtgeschichte?“. Meine Tochter.

Vorsichtig trete ich ein. Schiebe die Tür zur Seite. „Natürlich“, antworte ich mit zaghafter Stimme. Ich kniee nun direkt vor ihr. Überwältigt nehme ich die Decke, die am Fuß des Bettes liegt und platziere das weiche Stückchen Stoff liebevoll um sie. Auch das Kuscheltier, ein zerzauster Eisbär mit großen Kulleraugen, den sie fest mit beiden Armen umklammert, bedecke ich damit. Ich beginne zu erzählen. Von früher.

Ich erzähle ihr von grünen Wiesen, Blumen in allen erdenkbaren Farben und Größen. Ich male wunderschöne Landschaften, Gemälde gewaltiger Bäume, deren Spitzen, bis zu den Wolken ragten. Ich spreche vom Meer, manchmal tiefblau, manchmal hell und türkis. Von spektakulären Wasserfällen und Schluchten, so tief, dass du nicht mal den Boden erkennen vermochtest. Ich merke, wie sie mich begeistert anschaut. Die Augen immer größer. Enthusiastisch fahre ich fort und schildere ihr von den wilden Bären der Arktis.  Schwarz-Weiß gestreiften Pferden, von Wesen mit meterlangem Hals. Von Exemplaren in rot, grün, braun oder gelb, einige mit Hörnern und Hufen, andere mit Stacheln und Schwanz. Ja, selbst das Fliegen war für manche nicht zu schwer.

Nach einiger Zeit fallen ihr langsam die Augen zu und sie fängt an zu träumen. Ein paar Minuten bleibe ich noch an ihrer Seite sitzen und streichle achtsam mit meinem Daumen über ihre Stirn. Noch in Gedanken an unsere Sünden fühle ich eine Träne über meine Wange fließen. Ich schaue zu meiner Tochter. Unschuldig liegt sie da. Friedlich schlafend träumt sie von diesem Märchen.

„Es tut mir Leid“.

Autorin / Autor: Christoph K., 18 Jahre