Apfelsaft und Avocado

Einsendung von Laura Katharina Eimer, 23 Jahre

Hey, was soll das? Ich will doch noch schlafen!
Ganz langsam öffne ich die Augen und schaue durch die kleinen Schlitze zu meinem Fenster. Mist, ich habe gestern ganz vergessen, den Vorhang vorzuziehen. Ich schlafe eigentlich nicht mega lange, aber ich habe wirklich eine stressige Woche in meinem Aushilfsjob hinter mir, und wollte wenigstens an diesem Samstag einmal ausschlafen. Tja, das wars dann wohl, mein Pech.
Klar, ich könnte auch einfach jetzt noch das Fenster verdunkeln, aber einmal wach kann ich sowieso nicht mehr einschlafen. Also schlüpfe ich in meinen Bademantel und schlurfe den Flur entlang in Richtung Küche. Der Duft von frisch gebackenen Brötchen liegt in der Luft und plötzlich bin ich hellwach und habe tierischen Hunger. Papa grinst mich gut gelaunt an und Mama drückt mich kurz an sich und wünscht mir einen guten Morgen. Gerade will ich mir ein Brötchen schnappen, als Papa mich fragt, ob ich noch schnell die Post holen könnte. „Klar“, antworte ich und trete hinaus in den sonnigen Morgen. Auf der anderen Seite steht Frau Ludwig und gießt ihre Blumen, während ihr Hund versucht, nach den Bienen am Rosenbusch zu schnappen. Ich wünsche ihr einen schönen Tag und kann mir das Lachen nicht verkneifen, als der Hund über einen Ast stolpert.
Am Tisch reiche ich Papa die Briefe und die Zeitung und mache mich über mein Brötchen her. Es soll ja wirklich Leute geben, die morgens deftig essen, aber da gehöre ich definitiv nicht dazu. Ich brauche mein Brötchen mit Butter und Honig, einen Apfelsaft und ein Stück Schokolade.
„Luis, der Brief ist für dich!“, Papa wirft ihn mir zu.
Für mich? Ich bekomme nie Briefe, außer vielleicht von der Verwaltung, weil ich mal wieder geblitzt wurde, aber die sehen anders aus. Dieser Umschlag ist grün und es klebt eine Briefmarke mit einem Raumschiff darauf. Der Absender fehlt komplett. Darf das überhaupt sein? Wenn so ein Brief nicht zugestellt werden kann, dann ist er ja verloren? Naja, mir egal.
Die Handschrift sieht meiner eigenen sehr ähnlich, denke ich und fange an zu lesen:


Lieber Luis,
Ich weiß nicht genau, wie ich anfangen soll, ohne dass du den Brief sofort zerreißt, weil du denkst, hier will dich jemand verarschen. Aber glaube mir, es ist alles echt und ich hoffe du liest weiter. Also, die Person die dir hier schreibt, bist du selbst. Ja, das hört sich komisch an. Ich bin dein zukünftiges Ich und lebe im Jahr 2045. Ich habe lange überlegt, wie ich dich erreichen soll. Eigentlich wollte ich ein Hologramm senden, aber ich weiß, dass die Technik dazu noch nicht immer so optimal funktioniert. Dann habe ich wegen einer E-Mail überlegt, aber die wäre sicher im Spam-Ordner gelandet und du hättest sie nach den ersten Zeilen gelöscht.
Also pass auf, dass du mir glaubst, dass wir die gleiche Person sind, sage ich dir einfach mal kurz einige Dinge, die ich über dich weiß: Du heißt Luis Feldmann, wurdest am 13.05.2001 geboren, hast vor einem Jahr dein Abitur gemacht und keinen Plan, was du jetzt mit deinem Leben anfangen sollst. Du bist verliebt in Sophie, aber traust dich nicht, es ihr zu sagen und du hast eine kleine Narbe an deiner rechten Arschbacke, weil du dich als kleines Kind in einen Nagel gesetzt hast. Dein Lieblingsessen ist momentan Reis mit Hühnchen süß-sauer und dazu Avocadosalat. Du würdest morgens niemals ein Rührei mit Speck essen und lässt nichts über einen frischen Apfelsaft kommen. Ach, und außerdem bist du neidisch auf Ben, weil er einen so großen Bizeps hat.
Ich hoffe das reicht als Beweis?
Jetzt zu den wichtigen Dingen.
DU MUSST VERDAMMT NOCHMAL WAS TUN!
Ich weiß, momentan ist das Leben nicht so leicht wie sonst, die Coronakrise ist für jeden eine riesige Umstellung, aber glaub mir, es wird sich zum Guten wenden. Immerhin lebst du ja in 25 Jahren noch. Aber lass mich dir eines sagen: Es lebt sich nicht schön. Du willst gar nicht wissen, wie es hier aussieht. Ich hätte dir gerne Fotos mitgeschickt, aber wir haben keine Kameras mehr, es ist wirklich alles komplett digitalisiert. Ich bin froh, dass ich überhaupt noch Stift, Papier und Briefumschlag gefunden habe, aber Papa hat solche Reliquien aus vergangenen Zeiten noch in seinem alten Schreibtisch liegen gehabt.
Die Pandemie ist schlimm, keine Frage, aber es gibt ein Thema, dem unbedingt mehr Beachtung geschenkt werden muss und das ist nunmal der Klimawandel. Luis, es reicht nicht aus, auf Fridays for Future Demos zu gehen, da muss mehr passieren! Willst du auch noch mit 44 Jahren Apfelsaft trinken, Honig, Schokolade, Reis und Avocados essen? Dann tu was! Ich vermisse diesen Geschmack so sehr und ich wünschte, du könntest etwas tun, um diese Entwicklung aufzuhalten. Verdammt nochmal, ihr müsst das Bienensterben ernst nehmen! Ich kann höchstens zwei Mal pro Woche Obst kaufen, weil jeder nur ein gewisses Pensum hat. Die Bienen sind schon lange weg und es gibt Arbeiter auf den Obstplantagen, die die ganzen Blüten von Hand bestäuben. Durch die krassen Dürreperioden gibt es keinen Reisanbau mehr, denn der benötigt, wie du sicher weißt, sehr viel Wasser. Die Eichhörnchen auf dem Weg zum Badesee sind schon lange verschwunden, genau wie der See. Ja, du kannst noch jeden Tag dort hin fahren mit deinem Fahrrad und dich mit Tanja und Nico treffen, aber ich kann das nicht. Wie gerne würde ich lachend mit meiner Familie auf der Strandwiese liegen und Eis essen… Der See ist schon seit einigen Jahren ausgetrocknet und auf dem Gelände wurde eine Anlage errichtet, in der Roboter angefertigt werden. Wandern und Ski fahren liebst du über alles, das weiß ich, aber ich muss dich enttäuschen, das kannst du nicht mehr. Die Berge haben so viele Schlammlawinen ertragen müssen, dass weltweit alle Bergdörfer verschüttet wurden und Schnee… ich weiß gar nicht mehr wie der sich anfühlt…
Ich bitte dich Luis, vergiss dieses Thema nicht und kämpfe! Jetzt ist es an der Zeit. Deine Generation kann uns noch retten!

Voller Hoffnung und Liebe,
Der 44-Jährige Luis


Vor Schreck lasse ich mein Honigbrötchen fallen. Was soll ich jetzt tun?

Autorin / Autor: Laura Katharina Eimer