Existenzkrise - Ein Tagebuch

Einsendung von Silke Becker, 18 Jahre

07.11.2020
17:31 Uhr Diese Jahreszeit. Warum wird es so früh dunkel? Gäbe es keine Straßenlaternen, könnte man gar nichts sehen. Es ist kalt. Ich hasse es, draußen zu sein und zu warten. Auf was warte ich eigentlich?

09.11.2020
23:18 Uhr Ein Tag wie jeder: Mir gelingt nichts. Ich weiß nicht, was ich tun soll und niemand schaut mich an. Habe überlegt Passanten anzusprechen. Doch nicht getan. Die hätten mich nur blöd angeschaut. Also nur in den Nachthimmel gestarrt, den ganzen Abend.

10.11.2020
14:13 Uhr Lese gerade einen Artikel über Umweltverschmutzung, über das ganze Plastik in den Weltmeeren. Der Autor beklagt sich, dass wir unseren Müll einfach irgendwo hinschmeißen. Nichts Neues. Das fällt mir jeden Tag ins Auge.

14:16 Uhr Nicht selten sehe ich mich – wenn ich in der Stadt umherblicke – in einem Areal voller Abfall stehen. Alles liegt auf dem Boden, irgendwie. „Das könnte Kunst sein“ denke ich dann: Inhaltsleer, substanzlos, dekadent. Zum Glück scheint heute die Sonne.

16:43 Uhr Es ist mir eine Gewohnheit geworden, vorbeiziehende Menschenmengen zu beobachten. Manchmal zähle ich sogar mit.

19:45 Uhr Viele Gestalten gesehen: hundertvierundzwanzig. Jetzt ist es ruhig; der nächste Zug fährt erst in einer halben Stunde.

22:12 Uhr Hundertachtundsiebzig. Keine Lust mehr. Warum liegt diese Station eigentlich so weit entfernt vom Stadtzentrum?

13.11.2020
06:47 Uhr Wachgeworden mit dem ersten Zug. Nicht wegen den Fahrgästen, die sind morgens leise. Solange es dunkel ist, scheint niemand zu reden. Vor allem nicht mit mir. Habe versucht nochmal einzuschlafen, gibt sowieso nichts zu tun.

18:31 Uhr Jeder, der hier vorbeiläuft, scheint etwas zu tun zu haben. Hektik. Fast niemand geht langsam. Alle in Eile. Jeder will irgendwo hin. Was will ich eigentlich?

14.11.2020
11:13 Uhr Mir geht dieser Artikel nicht aus dem Kopf.

15.11.2020
07.05 Uhr Traum: Alles vollgestopft mit Müll. Viel und immer mehr. Plastik, Papier, Abfall und es stinkt. Immer schlimmer. Keine Rettung. Ich bin nicht mehr da, die Welt geht unter. Muss es nicht miterleben.
10:14 Uhr Ich habe die Lösung gefunden, heureka! Letzten Satz bitte streichen, bin doch arbeitslos.

17.11.2020
23:43 Uhr Schon wieder: Ratten auf dem Bürgersteig. Zu viel Müll. Sie gehen nicht weg und ich stehe dazwischen. Sie laufen trotzdem nicht fort. Soll ich sie streicheln?

19.11.2020
00:59 Uhr Ich muss wieder an diesen Artikel denken, obwohl es dunkel ist. Und kalt. Kann nicht einschlafen.

01:44 Uhr Es fängt an zu regnen. Nicht das erste Mal, aber diesmal stört es mich. Nass. Alles ist so leer.

02:26 Uhr Hier stehe ich und kann nicht anders. Auch wenn durchnässt. Das ist normal.

03:13 Uhr Grauenvolle Nacht. Wenn es die Reinigungskräfte nicht gäbe, die aufräumen, würde es hier vor lauter Müll auf dem Boden stinken. Tut es aber sowieso.

03:46 Uhr Das Problem ist nicht, dass so viel auf der Straße landet, sondern das Bewusstsein. Hatte ich nicht gesagt, ich habe die Lösung? Den Satz hatte ich gestrichen. Korrektur: Ich bin die Lösung und nicht besoffen.

13:11 Uhr Heute verschlafen. Nicht schlimm, mich braucht anscheinend sowieso niemand. Abgesehen von der Welt.

21.11.2020
13:24 Uhr Wenn ich die Fußgänger betrachte, habe ich den Eindruck, dass jeder andere Probleme hat. Nicht erst dieses Jahr.

14:06 Uhr Mein Leben besteht aus Müll. Ich kann helfen, trotzdem schaut mich niemand an. Hatte ich nicht gesagt, dass es auf die Einstellung ankommt. Keine einzige Person beachtet mich.

14:18 Uhr Deprimiert. Auch wenn es noch hell ist.


22.11.2020
16:47 Uhr Ich habe sie wieder gezählt. Alle, die vorbeigehen. Nicht alle. Das sind zu viele. Ungeachtet dessen werde ich ignoriert.

17:13 Uhr In dem Artikel waren Bilder von Tieren, die zu viel Plastik im Körper hatten. Sie meinten es sei Nahrung. Wie blöd…

17:15 Uhr Bin ich nicht genauso? Das ist was anderes. Wirklich? Vielleicht bin ich auch schon tot und lebe gar nicht mehr. Habe ich je gelebt?

17:17 Uhr Umso mehr ich darüber nachdenke, desto mehr erhärtet sich diese These. Niemand schaut mir in die Augen. Niemand spricht mich an. Niemand berührt mich.

18:29 Uhr Entweder ich werde bewusst ignoriert oder ich existiere nicht.

23:58 Uhr Hatte die Ratten vergessen. Eine ist vorbeigelaufen. Das Fell ist weich. Träume ich? Es stinkt jedenfalls. Schon wieder.

27.11.2020
07:41 Uhr Traum: Festbankett. Die Rettung der Welt wird gefeiert. Bekomme einen Orden. Bin nicht alleine. Es gibt viele, die so sind wie ich.

08:13 Uhr Lächerlich.

28.11.2020
12:17 Uhr Erinnerung: Alles vollgestopft mit Müll. Viel und immer mehr. Keine Rettung. Die Welt geht unter.

12:19 Uhr Zähle lieber weiter Menschen, als nachzudenken.

12:24 Uhr Wieso ist so viel Plastik in den Meeren? Alle, die Vorbeigehen schmeißen ihren Müll doch auf den Boden, das Meer ist weit weg…

12:25 Uhr Die Einstellung zu den Dingen. Bewusstsein.

29.11.2020
17:53 Uhr Kann ein einzelner Mensch die Welt verändern?

17:55 Uhr Man muss es wahrscheinlich zusammen tun, jeder alleine.

17:59 Uhr Ich für meinen Teil bin bereit, meine Aufgabe zu erfüllen. Wenn man mich nicht daran hindern würde. Stichwort: Müll auf dem Boden.

19:12 Uhr Drei Wochen alt und immer noch im Gedächtnis: dieser Artikel. Warum zähle ich dauernd vorbeigehende Füße?

19:14 Uhr Ich bin doch kein Mülleimer, der nichts zu tun hat. Oder doch?

22:39 Uhr Das war der letzte Zug heute. Deprimiert. Nach wie vor dunkel.

Autorin / Autor: Silke Becker, 18 Jahre