Vom Lernen im Regen zu tanzen

Einsendung von Kristin Pesch, 11 Jahre

Sie hat immer gesagt, dass alles besser wird, sich zum Guten wendet.
Dass man versuchen muss, mit den Augen ins Licht zu blicken.
Sie hat prophezeit, dass sich das Blatt wenden wird.
Doch jetzt ist sie tot.
Wer weiß, vielleicht wäre alles gut geworden, wenn sie noch da wäre.
Vielleicht.
Sie hatte eine unbeschreibliche Macht über die Menschen gehabt, so eine Aura, Ausstrahlung.
Sie hätte es verhindern können.
Verhindern, dass es so wird, wie es jetzt ist.
Dass diese Umweltkatastrophen ihren Lauf nehmen, die Erde zerstört wird.
Pole schmelzen, Meere werden mit Müll bombardiert, Luft und Böden verpestet, natürliche Ressourcen über das verträgliche Maß hinaus verbraucht.
Sie wusste, dass sie sterben würde.
Der Brief von ihr lag auf dem Rasen.
Selbst er sah schon vertrocknet aus.
Das Einzige, was sich nicht unterkriegen ließ, waren die letzten Sonnenstrahlen.
Der Sonnenuntergang.
Sie hatte ihn geliebt.
„Du wirst ohne mich leben müssen, zurechtkommen.
Es war meine Aufgabe, das Blatt zu wenden.
Nun wird es die deinige!
Ich weiß, dass du es schaffen wirst.
Lerne im Regen zu tanzen!
Ich werde weg sein,
und doch immer bei dir“.
Er realisierte, dass er nun ohne sie existieren musste. Dass sie nun nicht mehr da war.
Ihn unterstützen konnte.
Sie hatte sich getäuscht. Ein einziges Mal in ihrem Leben. Er konnte das nicht ohne sie schaffen.
Kein Mensch kann alleine lernen im Regen zu tanzen!
Wie sollte er alleine schaffen, die Erde zu retten?
Langsam ging er ins Haus zurück.
In das einzige Vertraute.
Er setzte sich auf den kahlen hölzernen Stuhl, der unter seinem Gewicht gefährlich knackte.
Starrte an die weiße Wand. In die Leere.
Dachte nach. Gedanken kreisten.
Über sie.
Über die Welt.
Wie anders sie doch geworden war, seit sie weg war.
Kahl und grau.
Wieder mehr Kriege, Seuchen, Rassismus, Unzufriedenheit.
Mehr Müll und Dreck.
Dort, wo früher Berge und Täler waren, sind jetzt Straßen und Einkaufszentren.
Bäume werden gefällt, Tausende pro Minute.
Feinstaub und Verpestung schnüren die Luft zum Atmen ab.
Doch es treten auch Umweltschützer und Klimaaktivisten auf den Plan.
Gibt es noch Hoffnung?
Oder wird er aufgeben, weil sie nicht mehr da ist?
Wird er nur in der versengenden Sonne liegen, statt im Regen zu tanzen?
Sie konnte nicht zurückkommen, es sagen. Doch er wusste, dass sie gewollt hätte, dass er durchgreift.
Seufzend erhob er sich vom Stuhl.
Trat ans Fenster mit einem Fotoalbum, das sie angelegt hatte.
Betrachtete die farblose Welt, gegen die bunten Bilder von früher.
Fragte sich, ob er das alles wirklich Schuld sein wollte.
Entschlossen klappte er das Album zu und legte es auf den feinen Porzellantisch.
Er musste etwas tun.
Jetzt.
Die Reifen ächzten unter der schnellen Beschleunigung seines selbst konstruierten
`Autos-für-die-Umwelt´.
Wobei, eigentlich hatte sie es erfunden.
Er fuhr immer schneller, hatte nur ein Ziel im Kopf.
„Haben Sie einen Termin?“, fragte die zierliche Dame am Empfang mit piepsiger Stimme. Er überhörte sie, rannte den langen Flur entlang.
Vor Zimmernummer 55 blieb er stehen. Er hatte sich vorher genau erkundigt, wo er hin musste.
Hinter dieser Türe würde sich die Zukunft entscheiden.
Würde er es schaffen, oder mit ihrer Idee scheitern?
Zimmernummer 55.
Fünfundfünfzig Minuten nach elf.
Fünf vor zwölf!
Triumphierend trat er mit einem dicken Umschlag aus dem Gebäude, das das Patentamt beherbergte.
Man fand ihre Idee genial. Eine Filteranlage, die Smog aus der Luft saugte und in Energie umwandelte. Dass es funktionierte, zeigte ihr `Auto-für-die-Umwelt´.
Mit jedem Kilometer wurde die Atmosphäre ein kleines Stückchen gereinigt.
Er würde ihre Idee auch für andere Bereiche weiterentwickeln.
Fühlte, dass er die Kraft hatte, es zu schaffen.
Eine Freudenträne lief seine Wange hinunter.
Nass, wie Regen.
„Ich werde weg sein, und doch immer bei dir“, hatte sie geschrieben.

Autorin / Autor: Kristin Pesch, 11 Jahre