Die alte Eiche

Einsendung von Angelina Pietrzyk, 16 Jahre

Mein Leben lang fiel es mir nie wirklich auf. Es befand sich unscheinbar vor meinen Augen, doch richtig wahrgenommen habe ich es nie. Bis zu diesem Moment. Ich trete näher und schaue es mir genau an. Es wird von einem dunklen Holzrahmen festgehalten und hängt neben dem Fenster. Das weiße Gemälde ist schon an einigen Stellen beige, allerdings noch gut erhalten. Es zeigt einen kleinen Park inmitten einer Einkaufsallee. Bunte Lichter und klirrende Portemonnaies wandern durch die endlosen Straßen der Allee. Der Park aber bleibt still stehen. Er wird von einer großen Schneehaube ummantelt, die an die Baumkrone der alten Eiche reicht. „Alten Mann“ nannten sie ihn. Er saß jeden Tag auf der Bank unter der alten Eiche. Sie bot seinen Kunstwerken Schutz vor der eisigen Kälte. Riesige Wiesen, auf denen Kinder unberührt Schneeengel hinterlassen und auf dem zugefrorenem See Pirouetten drehen. Das sehe ich in dem unscheinbaren Gemälde neben dem Fenster. Ein Ort der Geborgenheit, um dem täglichen Lärm zu entfliehen und sich fallen zu lassen. So fühlen sich die blassen Erinnerungen an. Im Park kam der Winter schnell und war streng, doch die Industrien waren schneller. Der Bürgersteig der Allee blieb während den strengen Wintermonate jedoch trocken und die Luft fühlte sich warm an. Schlagartig prallen Regentropfen auf die Fensterscheibe und reißen mich kurzerhand aus meinen Erinnerungen. Ich wende meinen Blick von dem Gemälde ab und schaue durch das Fenster ins Graue. Kleine Lichter erhellen die Straßen und ein leises Glockenläuten erreicht meine Ohren. Lautes Türknallen. Schließlich spüre ich den Bürgersteig unter meinen Füßen und ziehe die Kapuze auf. Ich komme den bunten Lichtern und dem Glockenläuten immer näher. Graue Rauchwolken schweben über den festlich dekorierten Einkaufsläden und lassen die Sicht der Menschen ersticken. Außer meiner. Ich setze mich auf die Bank unter der Eiche und breite meinen Regenschirm aus. „Ist es nicht ein schlechtes Wetter, um den Park zu malen?“, frage ich den alten Mann auf der Parkbank.                                                             
„Solange der Park noch da ist, wird mich die alte Eiche vor dem Regen beschützen.“

Autorin / Autor: Angelina Pietrzyk, 16 Jahre