Der Ruf des Uhus

Einsendung von Frieda Sommer, 17 Jahre

Da war er wieder.
Der Ruf des Morgens, von gestern auf heute bis Morgen.
Der Ruf der Vergangenheit, Zukunft und vor Allem dem Hier, dem Jetzt.
Der Ruf des Uhus.
Sie schlug die Augen auf.
Ein neuer Tag, ein neues Abenteuer.
Flink in die Kleider gesprungen, in die Küche gerannt, Mama geherzt, Papa
umarmt und ab in die Schule.
Und wenn sie wiederkommt steht er da.
Prächtig und groß, mächtig und alt:
Der Baum.
Oft fährt sie bloß vorbei, er fliegt an ihrem Auge vorüber, doch manchmal
da hält sie inne und staunt.
Groß, alt und so starr.
Nie hat er sich fortbewegt, immer hier gestanden.
Im Weg, an der Ecke.
Bewacht er die Leute, die hier ein- und ausgehen, die hier ihr Leben leben.
Heute, morgen und gestern.
Das Laub ist bunt, die Vögel laut.
Nun ist der Herbst gekommen.
Die Blätter am Boden schimmern wunderschön; doch nun geht es um die
Blankheit, das Grau.
Alles muss weg, sagt der Vater.
Blitzeblank wie bei den Nachbarn muss es sein.
Also ran da.
Nimm das Laub, heb es auf und wirf es in die Tonne.
Nein, nicht spielen, hilf mir beim Kehren.
Nicht tanzen mit dem Wind, der mit dem Laub spielt, komm hilf mir.
Nicht sammeln sollst du die Blätter, sondern wegwerfen.
Sei nicht so ein Kind.
Heimlich tut sie doch all das, was Papa untersagt.
Dann kommt das Beste und das ist sogar erlaubt:
Plattspringen!
Rein in die Tonne und hüpfen, hüpfen, bis die Blätter so gequetscht sind,
dass bestimmt keines mehr Luft bekommt.
Aber das ist egal, sie sind schon tot.
Das Seil ist schon lange da.
Ganz oben im Baum.
Wer hat es dort befestigt?
Zwischen den beiden Ästen?
Wer hat sich getraut, bis ganz nach oben zu klettern?
Wer, wer, wer?
Mein Bruder wars, sagt die Freundin stolz.
Der kann klettern wie ein Affe.
War er es wirklich?
Sie wird es nie herausfinden.
Wer zählt, steht am Baum.
Alle nicken.
Keiner will zählen.
Also macht sie es.
Sie möchte kein Spielverderber sein.
28...29...30.
Dann wird gesucht.
Wen sie findet, der muss schnell sein, schneller als sie.
Als Erster den Baum berühren, vor ihr.
Schafft der Gefundene es nicht, ist er gefangen.
Schafft er es doch, sind alle Gefangenen frei.
Das Spiel ist wohl selbsterfunden und sie sind alle mächtig stolz.
Bestimmt wird man es in ein paar Jahren überall auf der Welt spielen.
Dass es bald in Vergessenheit gerät, ahnt keiner.
Sie sind jung.
Optimistisch.
Der Baum muss weg.
Da soll ein großes Haus hin, man braucht Platz.
Schulterzucken.
Nicht weiter tragisch, findet sie.
Nur ein Baum.
Nichts Großes, nichts Wichtiges.
Die Baumfäller kommen und töten, was länger gelebt hat als jeder einzelne
von ihnen.
Innerhalb weniger Tage ist da, wo einst der große Baum war ein hässlicher
Fleck.
Schaut man genauer hin, ist es ein Stumpf.
Nichts ist unschöner.
Unschöner als eine Stelle, von der man weiß, dass dort mal etwas war.
Ein großer, schöner Baum - zum Beispiel.
Aber sie fährt einfach vorbei.
Das Haus wird gebaut und es ist noch unschöner als gedacht.
Kotzgrün.
Sie machen sich alle darüber lustig.
Auch ein kleines Bisschen über die, die dort einziehen.
Die sind so anders.
So ganz anders als die, die der Baum bewacht hatte.
Jetzt sind da die neuen Leute und kein Baum mehr.
Die neuen Leute mit der lauten Musik und den E-Zigaretten.
Kopfschüttelnd laufen die Alten vorbei; kichernd die Jungen.
Das Haus, ein Klotz an der Ecke.
Ein Dorn im Auge jedes Wegbewohners, der hier aufgewachsen ist.
Also auch ihr.
Jetzt wünscht sie sich doch den Baum zurück.
Sie schlägt die Augen auf.
Heute ist etwas anders.
Doch was?
In die Kleider, zu Mama, dann Papa und dann zur Schule.
Wiederkommen.
Freunde treffen.
Freizeit.
Leben eben.
Aber etwas ist nicht das Leben, das es mal war.
Etwas ist anders.
Lange weiß sie nicht, was.
Was es ist, das so anders ist.
Doch Wochen später merkt sie es.
Der Ruf fehlt.
Der Ruf, der ihr so verlässlich war.
Mit dem jeder Morgen begann.
Was ist aus dem Ruf geworden?
Aus seinem Sprecher?
Wo war er hin?
Ausgeflogen?
Umgezogen?
Auch wenn sie ihn nie gesehen hat, weiß sie genau Bescheid.
Weiß genau, wo er wohnte, ihr Freund am Morgen.
Und wer ihn vertrieb.
Der kotzgrüne Klotz, der nun an der Ecke steht.
Nicht mehr der Baum, wie einst.
Nichts ist mehr so, wie es war.
Und der Uhu hatte es geahnt.

Autorin / Autor: Frieda Sommer, 17 Jahre