Wandel

Einsendung von Katja Stammsen, 16 Jahre

Great Barrier Reef, Australien

Charles Darwin sagte einmal „Nichts in der Geschichte des Lebens ist so beständig wie der Wandel“. Wie Recht er damit hatte, wie beständig der Klimawandel war, wurde mir bei diesem Tauchgang zum ersten Mal so richtig bewusst.

Ich glitt mit kräftigen Schwimmzügen über das Korallenriff hinweg, wich den schillernden Fischschwärmen aus, tauchte zwischen leuchtend orangenen und violetten Korallen hindurch. Ich schloss die Augen, ließ mich treiben. Obwohl das Wasser vor Leben förmlich knisterte, empfand ich es als ungewöhnlich still, friedlich. Niemand hier unten schrie mich an, wedelte mit irgendwelchen Papieren vor meiner Nase herum, sagte mir, was ich tun durfte und was nicht. Hier unten inmitten der Korallen war ich auf eine seltsame Art … frei.

Mein Blick blieb kurz an einem besonders bunten Mondflossenzackenbarsch hängen, glitt dann über ihn hinweg, suchte nach dem Pfauen-Kaiserfisch, der noch vor wenigen Augenblicken ganz gemütlich an uns vorbei geschwommen war. Auf einmal war er wieder da, der Druck, der von der Welt da oben ausging.

Wieder nichts. Tolle Dokumentation, wirklich beeindruckend. Wahrscheinlich wird die ganze Welt ausflippen, wenn sie erfährt, dass man hier 45 Minuten dieselbe Koralle bestaunen kann.

Ich drehte mich zu Mike um, der die Kamera in der Hand hielt. Er zuckte nur ratlos mit den Schultern.
Frustriert wandte ich mich um und spürte, wie sich mein Fuß in irgendwas verhedderte. Erschrocken wirbelte ich herum. Kurz dachte ich, das leuchtend Gelbe an meinem Fuß wäre der Kaiserfisch. Dann erkannte ich eine Chipstüte.

Vorsichtig löste ich das Ding von meinem Fuß. Was um alles in der Welt macht denn eine Chipstüte im Great Barrier Reef?!

Unschlüssig hielt ich die Tüte hoch. Sollte ich sie einfach hier weiter herumtreiben lassen? Aber dann dachte ich daran, wie gerne Tiere alles Mögliche anknabbern und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass das der Verdauung guttat. Ich würde das Teil einfach mitnehmen und an Land entsorgen.

Ich nickte Mike zu, der mich abwartend ansah und wir schwammen weiter. Hielten wieder Ausschau nach dem blau-gelben Kaiserfisch.

Was wir dann tatsächlich erblickten, war weder ein Kaiserfisch noch irgendein anderes Lebewesen. Es war auch kein Teppich aus bunten Korallen. Wenn man so wollte, war es überhaupt nichts. Zumindest nichts was in irgendeiner Form existieren sollte.

Vor uns erstreckte sich etwas, das einer Mondkraterlandschaft sehr nahekam. In diesem Teil des Riffs hatten die Korallen jegliche Farbe verloren, ragten wie weiße Gerippe ins Meer hinein. Vereinzelt erkannte ich weitere Plastiktüten und andere Verpackungen. Auf den ersten Blick schien das Korallenriff wie ausgestorben. Als hätte es jemand mit einer immerwährenden Eisschicht überzogen, die sämtliche Riffbewohner vertrieb. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich einige kleinere Fische zwischen den Korallen, ein aussichtsloser Versuch dem ganzen etwas Leben einzuhauchen.

Eingefroren. Leblos. Tot. Das Riff ist tot.

Plötzlich war mir trotz des warmen Wassers um mich herum eiskalt. Meine Kehle schien zu eng, um den Sauerstoff aus meinem Atemgerät aufzunehmen. Meine Augen saugten sich an diesem Anblick fest. Ich wollte mich umdrehen, abwenden, wieder die farbenfrohen Fischschwärme sehen. Hauptsache nicht das, diese grauenvolle Leere. Plötzlich war es mir zu still, zu ruhig, zu friedlich. Tot, tot, tot.

Ich zwang mich die Augen von dem grauenvollen Anblick loszureißen, mich zu Mike umzudrehen. In seinen Augen spiegelte sich dasselbe stumme Entsetzen, das sich wie eine eiskalte Hand um mein Herz schloss.

Einer plötzlichen Eingebung folgend packte ich seine Hand mit der Kamera, drückte sie nach oben. Er begriff und schaltete das Gerät ein.

Das hier war es, was die Menschen sehen sollten. Nicht irgendwelche gestreiften Kaiserfische oder farbenfrohe Korallen, die irgendwo hinter uns wuchsen. Was half es, den Menschen etwas zu zeigen, was kaum mehr existierte? Was brachte es, Fische und ihren herrlichen Lebensraum zu filmen, wenn von diesem Lebensraum kaum mehr etwas übrig war? Was waren wir für Menschen, wenn wir jetzt die Herrlichkeit des Riffs in den Fokus unserer Kamera nahmen, wenn es direkt daneben verzweifelt um Hilfe schrie?

Plötzlich flammte eine ungeheure Wut in mir auf. Wut, dass wir hier unten einen Fisch filmten, dessen Lebensraum vor unseren Augen dahinstarb. Wut, dass eine Chipstüte im Leben offenbar weiter herumkam als ihr Besitzer. Wut, dass es überhaupt so weit hatte kommen können. Dass wir es so weit hatten kommen lassen.

Stumm winkte ich Mike, mir zu folgen. Langsam schwammen wir durch die erbleichten Korallen. Eiszapfen im Great Barrier Reef, die nicht existieren sollten.

Wo immer wir an Plastiktüten und anderem Müll vorbeikamen, hob ich ihn auf, bis ich kaum mehr schwimmen konnte. Ich wusste, dass das nicht viel brachte; die Müllmengen, die zwischen den kreideweißen Korallen trieben, schienen nur noch mehr zu werden. Dennoch fühlte ich mich dem Riff gegenüber auf seltsame Weise schuldig.

Wir sind dem Riff etwas schuldig. Wir alle. Wenn wirklich jeder mal die Augen aufmacht, ist es vielleicht noch nicht zu spät.

Dann war es vielleicht möglich, dass das Great Barrier Reef das größte Korallenriff der Welt blieb und nicht zu einer erbleichten Müllhalde mutierte. Auf einmal wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass die Korallen wieder Farbe annahmen, ich hier wieder Fische bewundern konnte statt Chipstüten.

Ich nickte Mike zu und gemeinsam schwammen wir zur Oberfläche.

Vor meinem inneren Auge sah ich noch immer die erbleichten Korallen und ich wusste, dass ich weder mich noch die anderen Menschen diesen Anblick vergessen lassen würde. In diesem Dokumentarfilm würden dann eben keine riesigen Fischschwärme und bunten Korallen zu sehen sein.

Die Menschen würden 45 Minuten lang das Great Barrier Reef zu sehen bekommen, wie es war. Ein empfindliches Ökosystem auf dem Weg, durch Menschen und ihren Müll, ihre Unachtsamkeit zerstört zu werden.