Eine Stadt

Einsendung von Amelie Marie, 17 Jahre

Ich saß auf einer Parkbank und blickte in den Himmel. Sie war hart. Die Bank. Und leblos. Ich rutschte hin und her, das Kind sollte ja nicht frieren. Und wünschte mich hoch zu den Sternen. Einst erzählte mir ein Freund, ebendiese Sterne ermöglichen es uns, zehntausende von Jahren in die Vergangenheit zu blicken. Ihr Licht erlosch schon vor vielen Erdumdrehungen. Ich hoffte, mich würde dasselbe Schicksal ereilen. Ich hoffte, mein Licht würde erlöschen. Ich hoffte, Frieden würde mich im Finale übermannen. Denn ich lief heute durch eine Stadt und trage ein Kind unter dem Herzen.

Ich lief heute durch eine Stadt und mein Schritt wurde schwer von all der Tristesse. All dem Grau. Ein Haus ohne Dach. Ein Bachlauf ohne Wasser. Ein Kind ohne Eltern. Ich sah Gassen, viele Gassen. Schmale Gassen, breite Gassen, hohe Gassen, dunkle Gassen. Über all diesen Gängen und Winkeln lag ein dumpfer Gestank. Rauch von monströsen Fabrikgebäuden. Er kroch durch jedes Fenster, um jede Ecke, griff nach mir mit seinen langen, knochigen Fingern, drückte mir die Kehle zu. Er verpestete die Luft, die Erde, das Wasser. Nichts wächst. Alles schwarz und tot. Jammergestalten hinter den beschlagenen Fensterscheiben. Hungrig und durstig. Vom lebensaushöhlenden Schuften. Nahe dem Ruin, dem Untergang. Die Lungen der kleinen zerrissen wie Spinnenfäden in einer stürmischen Frühjahrsnacht. Vom wochenlangen Schneiden und Nähen und Färben und Kleben. Süßlicher Duft dringt ein in Mund und Nase, ohne diese je wieder zu verlassen.

Gemeinsam mit den Sternen will ich davon. Spurlos verschwinden. Denn heute lief ich durch eine Stadt und trage ein Kind unter dem Herzen.

Heute lief ich durch eine Stadt. Gebaut. Gebaut aus Bergen. Gebaut aus Bergen reinen Abfalls. Müll. Unrat. Schutt und Schrott. Plastiktüten und Flaschen und Becher und Spielzeug und Deckel. Aludosen und Netze. Kleidung, Brillen und Wegwerfwindeln. Purzelten daraus hervor. Prächtige Villen, Schlösser und Gotteshäuser bauten sich vor meinen Augen auf. Entworfen und konstruiert von all den aussichtslosen Seelen, die hier ihr Dasein fristen. An diesem ausgelöschten Ort, dessen Vergangenheit einst Gegenwart bedeutete. Doch je näher ich an die einschüchternden Bauten herantrat – meine zittrigen Füße wurden angezogen, wie Magie- desto seltsamer wanden sich Fenster und Türen und Türme. Schauergestalten inmitten von Meeresgetöse. Und als meine Zehenspitzen fast schon die Fußschwelle eines zauberhaften Herrenhauses berührten, war die ganze Vision, all die Trugbilder, schon zerflossen und in sich zusammengesunken. Zurück in die faulige Masse, die sie war, seit die Weite des Meeres begann, alle nur und nicht erdenklichen Dinge hier anzuschwemmen. Sie kann mich verschlucken- fast hoffte ich es- und nie wieder hervorbringen.

Doch mein Pfad ändert seine Richtung. Denn ich lief heute durch eine Stadt und habe ein Kind unter meinem Herzen.
Ich lief heute durch eine Stadt. Eine Stadt, bis an den Rand gefüllt mit Staub und Hitze. Trocken und warm. Unerträglich warm. Kein Tropfen Wasser, Kein Blättlein Grün weit und breit. Mir war es beinahe, als habe alle Freude und Farbe diesen Ort verloren. Mein Weg setzte sich fort. Ein Schritt nach dem nächsten. Stehenbleiben oder Umkehren waren traurigerweise keine Option. Je tiefer ich in das Herz der Stadt drang, desto mehr Wesen begegneten mir auf meiner Reise. Einsame Kadaver. Leichen blickten mich aus vorwurfsvollen Augen an. Wir sind euch nicht unterlegen. Wir sind euch gleich. Sagten die Augen. Wir hätten Leben und Liebe verdient. Freiheit. Fruchtbarkeit. Freude. Allem, was wir sahen und bekamen, gaben wir den Namen “Verwüstung”. Unseres Lebens wurden wir beraubt. Ihr Diebe. Trieft vor Schlechtigkeit. Selbst im Tod gestandet ihr uns keinen Frieden zu. Gehäutet. Zerlegt. Gestückelt. Verschickt. Verzehrt. Nun existieren wir und ihr nicht mehr. Durch eure Faulheit und Blindheit. Dadurch, dass ihr eure Augen und Ohren bedeckt habt, dass ihr euren Mund euch habt verbieten lassen oder dieser seit eh und je verschlossen war.

Ich schmeckte eine salzige Träne auf meiner Zunge. Ich sah einen Kopf vor mir, einen Körper mit Beinen und Flügeln, mit Fell und Federn, mit zarten Ohren, einem wilden Schweif, mit Hufen und Krallen, mit einem Maul und einem Schnabel, mit einer Nase, die ihre Umgebung neugierig erkundet. Voller Vorfreude. Und dann diese Augen. Gefüllt von Vorwurf und doch leer. Enttäuscht. Von Verantwortung. Voller Schmerz. Wie viele Tiere haben wir verloren, obwohl wir sie hätten retten können? Ich sank langsam zu Boden. Auf meine aufgerissenen Knie. Und küsste den heißen Sand. Denn heute lief ich durch eine Stadt.
Morgen werde ich auch durch eine Stadt laufen. An meiner Hand ein kleines Kind. In dieser Stadt werden wir kaum atmen können, so dick ist die Luft von den Abgasen der nahen Fabrikgebäude. Die Menschen werden arm, krank, hungrig und traumatisiert sein. Die Müllberge werden so hoch sein, dass sie das Licht der Sonne verdunkeln. Es wird heiß sein, sodass die Tiere in ihren finsteren Ställen und Käfigen kurz vor dem Verdursten stehen. Der Gestank wird beinahe unerträglich sein. Doch sie leben noch. Die Sonne scheint und ein reinigender Regen naht. Vor den Toren der Stadt werden wir ein kleines Pflänzlein finden. Nur einen Keimling. Mit kräftigen grünen Trieben. Er wird eines Tages zu einem stattlichen Baum heranwachsen. Wir werden dieses winzige Bäumlein finden und wir werden es gemeinsam tun.
Denn ein Kind hält meine Hand.

Autorin / Autor: Amelie Marie, 17 Jahre