Der Geschichtenschreiber

Einsendung von Leonore Winkler, 21 Jahre

Er war neun Jahre alt gewesen, als er herausfand, dass er Wahrheiten schreiben konnte. Er war kein sonderlich guter Schüler in einer Schule, die nur diejenigen schätzte, die besonders gut waren. Kinder wie er waren Träumer. Sie waren zu unscheinbar, um gute Noten zu erbringen, aber auffällig genug, um das Opfer fieser Urteile von Gleichaltrigen zu werden. Er war zu wenig präsent, um akzeptiert zu werden und doch zu präsent, um ignoriert zu werden. So bekam er nie Ärger und dennoch war er unglücklich in seiner Schule. Seine Eltern verstanden ihn nicht, doch wesentlich schlimmer noch war, dass er sich selbst nicht verstand. Wäre er nur etwas mehr wie sie und etwas weniger wie er – doch es schien hoffnungslos. Und so besann er sich auf das, was ihm Freude bereitete und schrieb Geschichten, bis ihm die Finger wehtaten und das Handgelenk schmerzte. Er begann, sich einen Freund herbeizuschreiben, einen schlauen, witzigen Freund, den alle liebten und verehrten. Je mehr er schrieb, desto mehr Details fand er an seinem neuen Freund, er schrieb ihm einen Kleidungsstil, pechschwarze Haare und dunkle Augen. Und plötzlich stand er vor ihm – lebendig, echt und nah. Er wurde als „der Neue“ in der Klasse begrüßt, er spielte auf dem Schulhof, er redete mit den anderen. Aber das Entscheidende war, dass er nicht nur beliebt war – sondern auch sein bester Freund. Zu Beginn wollte er es selbst nicht glauben. Er hatte einen Menschen erschaffen! Bald schon packte ihn die Begeisterung. Er erzählte es sofort seinen Eltern, doch sie lächelten nur traurig und strichen ihm über das Haar. Enttäuscht zog er sich zurück; was nutzte ihm eine Fähigkeit, die niemand sah. Doch dann kam ihm eine Idee: Er schrieb über ein Gespräch mit seinen Eltern, das er am nächsten Tag führen würden. Noch einmal würde er ihnen von seinem Talent erzählen, doch diesmal würden sie ihm glauben! Er war wenig überrascht und doch freute er sich, als seine Eltern am nächsten Tag an seinen Lippen hingen und begeistert nickten. Aber das Gefühl blieb nicht lange bestehen, bald schon kämpfte er mit seinem Gewissen und entschied sich, die Geschichte wieder rückgängig zu schreiben. Seitdem trug er seine Fähigkeit mit sich herum, ohne sie mit jemandem zu teilen. Zu Beginn war die Verlockung groß, er schrieb sich einen Hund und Ferien am Meer, er schrieb sich Beliebtheit und gute Noten. Doch über die Jahre lernte er, vorsichtiger zu werden. Manchmal packte ihn die Angst und hielt ihn fest im Griff. Es war die Angst vor dem eigenen Einfluss, die Angst vor seiner Macht, die Angst vor sich selbst. So fand er sich immer wieder an seinem Schreibtisch wieder, ein leeres Papier vor sich, ein Stift daneben und darüber seine ausgestreckten Hände, die er mit einer Mischung aus Panik und Bewunderung betrachtete.

Und so saß er auch an diesem Abend da, zwanzig Jahre später und viele Erfahrungen reicher. Lange Zeit hatte er Stift und Papier gemieden. Zu groß war die Sorge vor den Auswirkungen gewesen. Hätte er Naturgesetze umschreiben können? Hätte er Zahlen verändern und die Schwerkraft aussetzen können? Zu groß waren diese Fragen und zu beängstigend, um sie zu beantworten. Doch heute hatte er einen Plan, eine Aufgabe, die die Welt verändern würde. Er wusste, dass es gefährlich war. Er wusste, was auf dem Spiel stand. Seine Finger zitterten, als er den Stift auf das Papier setzte und zu schreiben begann. Zunächst zögerlich füllte er die ersten Zeilen, doch dann schrieb er schneller und schneller, er füllte Seite um Seite bis der Tag der Dunkelheit wich, bis seine Augen tränten und sein Handgelenk schmerzte und doch schrieb er, bis der Morgen graute und die Dunkelheit der Nacht sich wieder von ihm löste. Er hörte erst auf, als er fertig war. Er schrieb von einem Virus, das die Welt erobern würde. Tag für Tag würde es weiter vordringen, nicht tödlich, aber beängstigend würde es von all jenen Besitz ergreifen, die es finden würde. Es würde in die ärmsten Gebiete ebenso vordringen wie in die reichsten Viertel der Welt, es würde Ländergrenzen übertreten und keine Sprachen sprechen, es würde Junge und Alte ebenso treffen wie Sorglose und Sorgenvolle. Aber vor allem würde es jeden Menschen packen, schütteln und die Menschen erst wieder verlassen, wenn sich alles geändert hätte. Es war ein nahezu perfekter Plan. Armut würde nicht nur dunkel in den Köpfen der Menschen lauern, sondern sie würde sichtbar werden, brutal und plötzlich. Ungleichheiten würden auffallen, Ungerechtigkeiten in das Bewusstsein jener gedrängt werden, die sonst ihre Augen davor verschlossen. Rücksichtslosigkeit würde auffallen, Krieg würde der gemeinsamen Sorge weichen müssen. Alle würden an einem Strang ziehen müssen, um das Virus zu bekämpfen. Und in all der Zeit hätte die Natur ihren großen Auftritt. Fische würden dort auftauchen, wo sie längst schon als ausgestorben galten, Luft würde rein werden, wo die Menschen vergessen hatten, wie reine Luft schmeckt. Wälder würden wachsen, wo zuvor gebaut wurde und Bäume stehen bleiben, die zum Tode verurteilt waren. Vielfalt würde aufleben, bunt und laut. Farbenspiele aus sattem Grün würden sich durch mattes Grau kämpfen. Er würde nie wieder schreiben brauchen, weil diese Geschichte länger war als sein Leben und farbenvoller, als er mit Worten malen konnte. Während die Menschheit mit dem Virus kämpfte, würde die Natur nicht mehr kämpfen müssen, sie würde leben und atmen und ihr Leben verteilen. Und wenn Regenwälder wieder größer, Tiere wieder freier wären, dann, ja dann, würde die Menschheit mit aller Kraft daran arbeiten, ihren wiedererlangten Lebensraum zu erhalten. Schließlich wären sie Profis im Zusammenarbeiten, sie hätten reichlich Erfahrungen gesammelt und gelernt, für die gleiche Vision zu kämpfen.

Als er am Morgen völlig ermattet den Stift beiseitelegte und sich auf seinem Bett ausbreitete, lächelte er. Das erste Mal seit jener Nacht, in der er seine Fähigkeiten entdeckt hatte, konnte er ruhig schlafen.

Autorin / Autor: Leonore Winkler, 21 Jahre