Was taut schneller auf?

Einsendung von Tina B., 23 Jahre

Ich bin gerade dabei, mir ein Glas mit Blut einzuschenken, als plötzlich eine neue Nachricht auf meinem Smartphone-Display auftaucht. Überrascht stelle ich das Glas zur Seite und öffne die Message. Über eine Dating-App hat mir ein gewisser Johannes geschrieben. Seine Einstiegsworte lassen meine Augenbrauen in die Höhe schnellen:

Was taut schneller auf: Das Eis an den Polkappen oder du beim Kennenlernen?

Ich grunze. Wirklich?

Während ich in meinem Kopf debattiere, ob ich überhaupt auf die Nachricht antworten soll, greife ich zum Glas und nehme einen großen Schluck des Bluts.

Nein, ich bin kein Freak. Ich bin eine Vampirin. Viele glauben aufgrund meiner blassen Haut, der dunklen Augenringe und den blutleeren Lippen, dass ich einfach übermüdet bin, eine schwierige Zeit durchlebe oder mehr Vitamin D benötige (alles Faktoren, die sogar ziemlich zutreffend sind). Aber tatsächlich bin ich einfach nur eine blutsaugende Gestalt, die nicht altert und mit Hitze nicht so gut umgehen kann. Das bedeutet nicht, dass ich bei Tageslicht sofort in Flammen aufgehe (oder noch schlimmer: anfange zu glitzern). Wenn ich meine Haut mit genügend Sonnencreme beschichte und Temperaturen über 25 Grad vermeide, dann komme ich ganz gut durch den Tag.

Seit 137 Jahren wandele ich auf der Erde – und halleluja, wie sehr sich der Planet doch in all den Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten verändert hat. Nicht nur gesellschaftlich und politisch hat die Menschheit viele Wendepunkte erlebt, auch die technischen Entwicklungen schritten so schnell voran, dass ich das Gefühl habe, innerhalb eines Wimpernschlags vom Briefpapier zum Telefon, zur E-Mail und schließlich zur WhatsApp-Message gewechselt zu haben. Heutzutage gibt es für alles einen Kommunikationsdienst – so auch für das Dating.  Und natürlich gibt es auch eine Dating-App exklusiv für Vampire.

Ich beschließe mir erst einmal das Profil von Johannes anzuschauen. Braune Augen blitzen mir schelmisch entgegen, das dunkelblonde Haar ist kurz und beim Grinsen zeigt er eine Reihe weißer Zähne. Neben seinem Profilbild hat er auch ein paar Worte über sich selbst geschrieben: Er sieht sich als Pionier der Umweltaktivisten und war schon 1899 mit Lina Hähnle befreundet, die damals den „Bund für Vogelschutz“ ins Leben rief. Gerade weil er für immer auf diesem Planeten leben wird, versucht er diesen so gut es geht zu erhalten.

Nachdenklich ziehe ich die Augenbrauen zusammen. Bisher habe ich mir über die Wandlungen im Laufe der Zeit nie großartig Gedanken gemacht. Ich war begeistert, als Kutschen durch Autos ersetzt wurden, als Flugzeuge am Himmel flogen und ich innerhalb weniger Stunden von Deutschland in die ganze Welt reisen konnte. Die Konsequenzen dieser Fortschritte habe ich aber erfolgreich verdrängt.

Natürlich habe ich mitbekommen, dass mit den Jahrzehnten und den Entwicklungen die Menschheit die Erde immer mehr verpestet hat. Die ganzen Demonstrationen und Streiks sind auch nicht an mir vorbeigegangen. Aber mein Leben ist unendlich. Ich werde schon überleben… oder nicht?

In einem Zug leere ich das Glas mit dem Blut. Dann antworte ich Johannes:

Ich hoffe nicht, dass zuerst die Polkappen schmelzen müssen, bevor wir Gelegenheit haben uns kennenzulernen.

Plötzlich packt mich Interesse. Wie schlimm steht es wirklich um unsere Welt? Und wieso habe ich mir noch nie darüber Gedanken gemacht? Vielleicht nehme ich als Vampir alles zu selbstverständlich. Krankheiten und Kriege haben mich nie gestört, sie konnten mir nichts antun. Aber Klimawandel… Selbst wir Vampire können dem nicht entkommen. Können wir dagegen etwas tun? Noch während ich überlege, welche Schlagwörter ich in die Suchmaschine eingeben soll, bekomme ich eine neue Nachricht von Johannes.

Dafür ist es leider zu spät: Die Polkappen schmelzen bereits.

Ich schlucke hart.

Johannes schickt eine weitere Nachricht hinterher: Die Polarregionen bekommen die Erderwärmung ziemlich stark zu spüren. Am Südpol gehen jährlich mehrere hundert Milliarden Tonnen Eis flöten… wenn das so weitergeht, dann haben wir bald nichts mehr zu lachen.

Zugegeben: Solch ernste Gesprächsthemen habe ich noch nie zu Beginn einer Dating-Bekanntschaft geführt. Und für einen Moment tendiere ich dazu, die App einfach zu schließen, das Gespräch zu vergessen und mich wieder dem gewohnten Alltag zu widmen. Aber aus irgendeinem Grund fühlt sich das falsch an.

Meine Finger gleiten über die Smartphone-Tastatur und ich frage: Wieso setzt du dich für die Umwelt ein?

Die Antwort kommt schnell: Weil wir nur diesen Planeten haben. Auch wir Vampire brauchen Sauerstoff. Gerade die Erderwärmung ist für uns eine Gefahr. Wenn die Temperaturen steigen, dann hilft uns auch keine LSF 50-Sonnencreme mehr. Dann sterben wir noch vor den Menschen aus.

Auf einmal habe ich das Gefühl eine halbe Sinneskrise zu durchleben. Vampire werden immer als die überlegene Spezies bezeichnet. Wir sind stark, schnell und einige auch gefährlich. Aber wenn der Klimawandel voranschreitet, dann kann unser ach so unendliches Leben plötzlich endlich werden. Würde mein Herz noch schlagen, dann würde es mir wahrscheinlich gerade aus der Brust springen.

Und außerdem, fügt Johannes nach ein paar Minuten hinzu, tut es mir für die Pflanzen- und Tiervielfalt leid. Wir Menschen und als Menschen getarnte Vampire haben uns nie große Gedanken über die Konsequenzen gemacht. Dabei ist Nachhaltigkeit so wichtig! Ich war vor einigen Jahrzehnten in Australien. Das Korallenriff früher: Wunderschön! Heute: Ein trauriges Überbleibsel. Das ist nicht richtig. Sorry, wenn ich in dem Thema zu sehr aufgehe…

Ich beschwichtige ihn: Alles gut. Ich glaube, du öffnest mir gerade ein wenig die Augen.

Ja, manchmal verschließt man sie gerne vor der Wahrheit, schreibt Johannes. Wenn du willst, kann ich dir bei einem Treffen mehr erzählen.

Mein Interesse ist geweckt. Ich will mehr wissen: über den Klimawandel, die Umwelt und über Johannes.

Autorin / Autor: Tina B., 23 Jahre