Auf dem Wasser

Einsendung von Anna Mohl, 21 Jahre

Es war ein Tag wie gemacht für eine Bootsfahrt: Ein stahlblauer Himmel wölbte sich über das Wasser, eine leichte Brise streichelte sanft über die Oberfläche des Sees und hatte unzählige Segelboote dazu verführt, in weißer Eleganz einen übermütigen Reigen auf dem Wasser aufzuführen. Wie Ballerinen tanzten sie im Wind und schienen die großen Schiffe fast zu verspotten, die vor dem Hafen vor Anker lagen und daneben behäbig und schwer wirkten. Im Kontrast dazu befanden sich die kleinen Ruderboote, Nussschalen; zerbrechlich wirkend.
Es war ein Vergleich, der niemand eingefallen wäre, hätte ein älterer Herr ihn nicht in die Runde geworfen, während sie am Pier warteten. Man fand ihn gut, zustimmendes Nicken der Mitreisenden bestätigte dies und gab dem Herrn das Gefühl, es würden weitere Kommentare von ihm erwartet. Er sei froh, auf der Autofähre zu fahren, sagte er. Da fühle man sich doch ein wenig sicherer.
Prompt legte in gewichtigem Selbstbewusstsein das erwähnte Schiff am Pier an, größer und imposanter als alle anderen und wirkte, als könne ihm nichts auf der Welt etwas anhaben. Der Metallsteg, der sie an Bord brachte, glänzte vertrauenserweckend. Die Fahrgäste ließen sich am sonnigen Deck nieder.
Schon machten die schmucken Stewarts Anstalten, die Rampe einzuholen, als ein junger Mann noch angerannt kam. Er wirkte fremdländisch, vielleicht ein Italiener – unpünktlich war er ja. Das war nicht böse gemeint, nur eine Feststellung, lediglich zwei Tatsachen nebeneinander festgehalten. Man ließ ihn mit bewusster Kulanz noch passieren. Dann entfernte sich das Schiff zügig vom Festland. „Pünktlich wie die Eisenbahn“, sagte der ältere Herr mit Blick auf die Uhr und lachte vielsagend; man wusste ja, dass es mit der Pünktlichkeit der deutschen Bahn heutzutage nicht mehr weit her war. 
Die Konversation nahm jetzt Fahrt auf, konnte doch wirklich jeder der Anwesenden eine Episode über die Unpünktlichkeit der Züge beisteuern. „Katastrophal sage ich Ihnen, einfach Ka-ta-stro –phal“, echauffierte sich eine Frau mit rotgefärbter Dauerwelle lautstark.  „Die ganze Nacht!“, rief eine offensichtlich teuer geliftete Dame reiferen Alters entrüstet über die Köpfe der Passagiere hinweg, “Die ganze Nacht haben wir gewartet.“ 
Der Italiener – oder was auch immer er war – gab sich wortkarg. Er wirkte unruhig; mehrmals stand er auf, ging zur Reling und schien mit den Augen den Horizont abzusuchen.
Man einigte sich schließlich darauf, dass das Zugfahren in Deutschland aktuell unzumutbar sei. Natürlich müsse man dringend etwas gegen den Klimawandel unternehmen und natürlich müsste die Politik endlich handeln. Und selbstverständlich sei man gerne bereit, einen Beitrag zu leisten. „Wir sitzen doch alle im selben Boot“, kommentierte der ältere Herr und man schmunzelte. Bio kauften sie fast alle, das wurde selbstbewusst erzählt. Aber was an Einschränkung zu viel sei, das sei einfach zu viel. Man stimmte zu.
Niemand merkte, dass der Himmel längst nicht mehr blau war. Erst, als die Sonne mit einem Mal verschwand, blickte man auf. Wolken bedeckten das eben noch blaue Band, am Horizont waren weitere, dunklere Wolken im Anmarsch. Der Wind trieb mit überraschender Geschwindigkeit Wolkenberge vor sich her. Die gelben Sturmwarnleuchten am inzwischen weit entfernten Ufer begannen, sich hektisch zu drehen.
Plötzlich war das Deck in intensive Farben getaucht, Regenjacken und Regenschirme wurden ausgepackt. In Deutschland war man für alles gerüstet. Man war schließlich nicht aus Zucker. Hartgesottene Rentner rüsteten sich in Allwetterjacken, Trekkinghosen und Wanderschuhen – das Unwetter konnte kommen.
Der junge Mann schien keinen Regenschutz zu besitzen, doch keiner bot ihm einen Platz unterm Schirm an. Er hätte ja einen mitnehmen können. Man konnte sich nicht immer darauf verlassen, dass andere für einen mitdachten. Wenn jeder an sich selbst denken würde, wäre an alle gedacht.
„Die Flut kommt“, sagte er da plötzlich.
„Was für eine Flut, junger Mann?“, fragte der ältere Herr belustigt. Der Angesprochene drehte sich zu ihm um, sein Ausdruck war schwer zu deuten. „Die Sintflut“, sagte er ernst.
Man lachte, leicht verunsichert. „Sie sind ja ein bibelfester Spaßvogel, mein Lieber“, konterte die Dame reiferen Alters schwach.
In diesem Moment setzte der Regen ein. Die schweren Tropfen lieferten einen Vorgeschmack auf das, was noch folgen würde. Ein kalter Wind war aufgekommen, der den Regen unangenehm in die Gesichter der Passagiere peitschte und die Schirme nutzlos machte.
„In der Tagesschau sagten sie gar nichts von Regen. Wie lang soll das dauern?“, erkundigte sich der ältere Herr. Die Runde schwieg.
„Vierzig Tage und Nächte“, sagte der junge Mann.
„Was wissen Sie schon“, bellte die Dauergewellte.
„Das Ende ist nahe“, sagte der junge Mann.
„So ein Unsinn“, schnappte die Dame reiferen Alters.
Das Schiff schwankte in den Wellen, die gegen seine Seite schlugen. Nein, sicherlich gab es bei einem so modernen Schiff nichts zu befürchten. Bestimmt hatte es etliche Qualitätskontrollen durchlaufen. Man lebte schließlich im 21. Jahrhundert – und in Deutschland.
Die Dauergewellte wagte es, die Vermutung aufzustellen, dass das Unwetter mit dem Klimawandel zusammenhänge. „Es ist wirklich unvorstellbar, dass die Folgen jetzt auch bei uns ankommen“, sagte sie dramatisch und hielt sich an ihrer Kaffeetasse fest.
„Aber davon wird doch nicht gleich die Welt untergehen!“, rief die Dame reiferen Alters nervös und warf einen unsicheren Blick in die Runde.
„Immerhin sitzen wir nicht in den Nussschalen“, warf der ältere Herr ein. Keiner lachte, denn darüber machte man doch wohl keine Scherze. Überhaupt war den Passagieren nicht mehr zum Lachen zumute. Die Wellen wurden höher, man musste sich jetzt festhalten, um nicht den Halt zu verlieren.  Das Schiff legte sich bedrohlich zur Seite.
„Eigentlich waren wir ja auch besser im U-Boot bauen“, bemerkte der ältere Herr bissig.
„Ich finde nicht, dass man da von „wir“ sprechen sollte“, entgegnete die Dauergewellte heftig. „Ich bin kein schlechter Mensch“, erklärte sie laut. „Klar, man hat seine Fehler, aber die hat ja jeder.“ Hilfesuchend blickte sie sich um auf der Suche nach Absolution. „Ich spende jedes Jahr an den Tierschutzverein!“ rief sie dann. 
„Ich spende bestimmt mehr“, giftete die Dame reiferen Alters.
Es hätte sich ein Streit entfaltet, wäre der junge Mann nicht aufgestanden und an die Reling gegangen. Sogleich verstummten alle.
„Kannst du nicht den Seesturm stillen?“, erkundigte sich der ältere Herr zynisch.
„Glaubst du denn, dass ich das kann?“, fragte der junge Mann.
„Nein“, antwortete der ältere Herr unumwunden.
„Das ist das Problem“, sagte der junge Mann schlicht.
„Können wir nicht die Seenotrettung rufen?“, fragte die Dame reiferen Alters bang. „Sowas muss es hier doch geben. Wir sind doch Bundesbürger. Wir sind wichtig!“
Die Passagiere blickten auf das Wasser hinaus, das tobte und brauste. Donnergrollen ertönte.
„Gott steh mir bei“, flüsterte die Dauergewellte. „Ich meine, uns.“

Autorin / Autor: Anna Mohl, 21 Jahre