Verstummt

Einsendung von I.M. Oswald, 23 Jahre

Es hockte im Gebüsch und versuchte keinen Laut von sich zu geben. Schritte hatten es verscheucht, als es zum Bach gehoppelt war, um dort einen Schluck Wasser zu trinken. Das gestaltete sich komplizierter als letztes Jahr, denn die Sonne brannte nicht nur auf seinen Pelz, sie trocknete auch die Gewässer und die Pflanzen aus. Keine Wellen schwappten mehr über die Ufer. Es musste hinunterklettern, um sich ein paar Tropfen zu genehmigen. Den Pflanzen erging es nicht anders. Der Busch, unter dem es saß, war noch jung. Seine Wurzeln reichten nicht tief genug, um sich von der Quelle zu nähren. Von oben kam seit Tagen kein Regen. Die Blätter hingen bereits hinab. Das Grün strahlte nicht mehr, sondern ermattete. Bald würde der Busch verdorrt sein und das Kaninchen würde sich ein neues Versteck suchen müssen.
Doch heute boten die Zweige und Blätter noch genügend Schutz, als die Menschen sich näherten. Es beobachtete sie. Sie hatten ihr Auto hier geparkt und kehrten nach einem kurzen Ausflug zurück. Sie schlürften aus ihren Getränkedosen, zogen an ihren Zigaretten und knüllten die Plastiktüte, aus der sie ihr Essen geholt hatten, zusammen. Das machten viele. Das Kaninchen verstand nicht warum, aber neben dem Bach hatte sich bereits eine Müllhalde gebildet.
Bananenschalen lagen dort, die nach wenigen Tagen eins mit dem Gras wurden, aber auch glitzernde Dinge und Plastiktüten verteilten sich am ganzen Bachrand. Das Kaninchen wich ihnen stets aus. Bei jedem Lauf zum Bach sah es sich vor, kein Menschending mit den Pfoten zu berühren. Die waren gefährlich, hatte seine Mama gesagt. Davor warnte sie alle, seit ein Kind von ihr, aus dem letzten Jahr, sich im Müll verheddert hatte. Was hatte sein großer Bruder für Angst gehabt. Paralysiert hatte er dagesessen, bis sie ihn befreit hatten. Ihrer Freundin Frau Spatz war es nicht so gut ergangen. Um ein paar Brotkrümel für ihre Kinder zu holen, war sie in eine Plastiktüte gekrochen und hatte sich verfangen. Die anderen Waldbewohner hatten es nicht gemerkt. Zunächst bekamen sie nur das wilde Zwitschern mit, konnten es aber nicht verorten. Bald wurde daraus ein Schreien, das in einem kraftlosen Krächzen verklang. Niemand hatte Frau Spatz je wiedergesehen. Man hörte sie auch nicht mehr. Sie war verstummt, genau wie ihre Kinder im Nest, denn niemand fütterte sie mehr.
Das Kaninchen verängstigten solche Geschichten. Trotzdem lauschte es gerne, wenn seine Mama erzählte. Manchmal fragte es sich, ob die Menschen diese Fallen mit Absicht für sie legten.
Es zuckte, als eine schnelle Armbewegung in seine Richtung glitt, aber der Mensch warf nur seine Dose weg. Offensichtlich Absicht.
Ein anderer nahm sich den glimmenden Stängel aus dem Mund und warf ihn ebenfalls ins Gras. Einmal trat er drauf, das Kaninchen zuckte, ein zweites Mal stapfte er auf das glühende Ding, ein drittes Mal und ließ es dann liegen. Ein kleines Glühen blieb zurück. Achtlos lief er weiter. Das Kaninchen rümpfte die Nase über den ekligen Geruch. Es kratzte auf seiner Zunge und in seinen Nebenhöhlen.
Offensichtlich Absicht. Wiederholte es gedanklich. Dann klappten endlich die Autotüren zu. Das Brummen des Motors drang in seine Ohren und das Auto fuhr davon. Endlich konnte das Kaninchen sich hervorwagen. Es hüpfte aus seinem Versteck. Mühevoll kletterte es das Ufer hinunter und mied dabei jede glänzende Dose, jede zerknitterte Tüte, jede Batterie…
Das Kaninchen kletterte bis zu der dünnen Wasserquelle, die verblieben war. Es trank. Da fiel ihm auf, dass der Geruch nicht nachließ. Normalerweise schwand der Rauch. Dieses Mal intensivierte sich der Gestank. Es drehte sich um. Vor Entsetzen weiteten sich seine Augen. Auch das Orange hatte sich ausgebreitet, der Rauch war zu einer dunklen Wolke geworden.
„Was ist das?“, fragte es sich. Es stellte sich auf die Hinterläufe und streckte die Nase. Sowas Seltsames hatte es noch nie gesehen, aber die ansteigende Hitze verhieß nichts Gutes. Intuitiv stürzte es los. Trotz der Wärme rannte es zurück in den Wald. Es wollte seine Mutter fragen, was das ist. Es wollte sie warnen. Doch die orange Farbe folgte ihm blitzschnell. Viel schneller als erwartet. Inzwischen ballte sich das Orange zu einer zweiten Sonne. Nur näher, bedrohlicher. Wo das orange Glühen hingelangte, fraß es jedes Holz und streckte Bäume nieder. Aber das Kaninchen rannte weiter. Es musste zu seiner Mama. Immer wieder kamen ihm Tiere entgegen. Sie schrien ihm zu: „Renn weg!“ „Aber ich muss doch Mama finden!“, antwortete es dann. Verzweifelt schüttelten sie den Kopf, als es nicht gehorchte, aber sie bremsten nicht. Sie rasten in die verschiedensten Richtungen davon. Konnten selbst nicht sagen, welche die richtige war, welche hinausführte, welche Leben rettete.
Das Kaninchen wusste es auch nicht. Aber es wollte seine Familie nicht im Stich lassen. Mama hatte ihm das beigebracht. Unter jedem springenden Hirsch duckte es sich weg, hüpfte über jeden Baumstamm, flüchtete auf schnellen Pfoten vor dem Sonnenball hinter ihm. Es war sich sicher, es würde es schaffen. Es war sich sicher, denn Kaninchen waren schnell! Dem Orange würde es schon einen Haken schlagen. Es traf ihn unerwartet. Als plötzlich eine Hirschkuh aus dem Gebüsch schoss, über ihn hinwegsprang und ihn mit ihrem Huf am Kopf traf. Es kam unerwartet. Das Kaninchen taumelte. Das Kaninchen schüttelte sich. Aber gegen die Schwärze in seinen Gedanken gewann es nicht. „Laufen!“, dachte es, aber seine Beine gehorchten nicht. Es versuchte, sie vorwärts zu treiben. „Du musst rennen, hörst du?“, sagte es sich, „Die Sonne fällt sonst auf dich.“ Aber die Beinchen kreiselten umher, genau wie das Bild vor seinen Augen. Es rauschte in seinen Ohren. Immer näher kam das knisternde Orange, bis das Kaninchen zu Boden fiel und seine Gedankenwelt zusammenbrach. Es verließ die Schwärze nicht mehr. Tauchte nicht mehr aus der Dunkelheit auf.
Wie Frau Spatz und ihre Kinder war das Kaninchen verstummt.

Autorin / Autor: Einsendung von I.M. Oswald, 23 Jahre