Zeitzeichen

Einsendung von Samira Schmidt, 17 Jahre

Ich lief durch befüllte Straßen. Getrieben, gehetzt von der Menschlichkeit. Autos hupen, doch ich war schon lange taub. Schritt für Schritt über den Asphalt, nach vorne guckend, alles ignorierend. Da, die Bushaltestelle. Noch 15 Minuten. Tick Tack. Hinsetzen. Warten. Tick Tack. Menschen hier, Leute da . Alle beschäftigt, gefangen im Irrealen. Beschimpfungen, Flüche, ich mache mich noch kleiner. Ein vorsichtiger Blick in die Ferne. Stadt, Häuser und - Kraftwerke. Wolken steigen empor, Trümmer der versteinerten Sonne. Verdunkelung des ohnehin schon dunklen Himmels. Düstere Zeiten. Ein Plakat erregte meine Aufmerksamkeit: Stoppt den Klimawandel! In großen schwarzen Buchstaben. Und noch eine traurige Erde gemalt. Soll mir doch egal sein. Probleme hat man eh schon genügend. Wen interessiert dann schon irgendein Klimaproblem? Und ich schaue auf die Uhr. Zehn Minuten. Tick Tack. Die Hetzerei hätte ich mir wirklich sparen können. Naja, nun ist es auch egal. Mein Blick schweifte über den rasenden Autos zu den gläsernen Palästen. Tick Tack.  Riesig. Kalt. Friedlos. Natur war ja schließlich Schnee von gestern. Efeu ist nur noch das Einzige, was auf den Himmelshäusern noch Platz fand. Das war in Ordnung.  Aber eben auch nur das. Das kostete ja nichts... immerhin. Giftig grün wie Banknoten schmücken sie die noch leeren Büros. Verflucht, blöde Geldsorgen! Seufzend blickte ich auf meine fast stehengebliebene Uhr. Tick Tack, Tick Tack. Noch fünf Minuten. Was für eine Verschwendung! Zeit war ohnehin schon das Kostbarste, was man hatte.
Verbittert starrte ich in die Augen der vorbeiziehenden Menschen. Blau, grün, braun, doch alle leer, beschäftigt. Suchend sah ich mich nach Gefühlen um. Alles weg. Verschwunden.
Und die Menschen, die meine Blicke spürten, lächelten genervt sarkastisch zurück. Doch viel Zeit blieb ihnen dafür nicht. Sie verschmelzen mit ihrem Umfeld, forttragend zu ihrem nächsten Zielen. Tick Tack. Tick Tack.
Ich wurde langsam nachdenklich. Der Bus kam. Quietschend, ächzend kam er ins Stehen. Gefangen im Strom kämpfte ich mich irgendwie durch. Ich tastete aufgeregt nach meiner Uhr. Doch da war nichts! Und dann sah ich sie: Zersplittert und zerrissen auf dem Asphalt, meine Uhr.  Und neben ihr blühender Löwenzahn, kleine Sonnen im Dunkeln. Die Zeit war stehengeblieben. Ich lächelte. Die Türen schlossen sich. Der Bus fuhr weg.
Und ich blieb stumm stehen. Die Natur, ja die Natur hatte genug Zeit. Sie ist unendlich und immer existent, sie setzt sich durch, ohne auf die gegebenen Gesetze zu achten. Sie wird uns überdauern, wenn wir nicht mehr da sein werden. Irgendwann.
Wir nehmen vieles für selbstverständlich. Doch was würde passieren, wenn man uns genau diese Dinge wegnehmen würde? Sauerstoff zum Atmen. Früchte zum Essen. Langsam wischte ich die Scherben meiner Uhr zur Seite und beäugte den Löwenzahn. So klein, so fragil und doch so robust.
Und ich?  Eine herrliche Selbstreflexion. Irritiert von meinen eigenen Verhalten schüttelte ich den Kopf. Meinen Termin, den hatte ich soeben verpasst. Mein neuer Job. Mein Ticket für einen Neuanfang. Ich schluckte kurz und heftig. Das Leben zerronn mir zwischen den Fingern und ich schaute stillschweigend zu. Was solls. Ich werde eine zweite Chance bekommen mich zu beweisen. Aber die Erde? Mein Blick glitt wieder zum Klimaplakat und ich schaute mich erneut zwischen den steinernen Gesichtern um:  Ein Mann warf seine Zigarette auf den Boden, trat sie aus und ging. Wieder ein anderer ließ lustlos seinen Coffee- To-Go Becher neben den Mülleimer fallen. Kein Mensch schien sich um mich zu kümmern, sich für den Löwenzahn zu interessieren. Unwichtig. Irrelevant. Warum auch? Wer sich im Rausch des Kapitalismus bewegt, hat es nicht nötig sich um etwas Anderes zu kümmern.
Wir waren doch nur hohle Marionetten der Gesellschaft, aufgefressen von Statussymbolen und aufgezwungenen Werten und Idealen. So viele Gedanken flirrten hin und her, durchstocherten jede meiner Gehirnzellen, suchten nach Antworten. 
Mein Blick glitt wieder auf den Löwenzahn. Wie konnte ich nur vergessen, wie wertvoll sie sein können? Wir zerstörten. Der nächste Bus stoppte. Ein einziger Gedanke formte sich in meinen Kopf. Erst war es nur eine kleine Idee, ein kleines Pochen. Bald wurde es größer, aufdringlicher bis es meinen ganzen Kopf beherrschte wie ein Dirigent seine Musik. Und dann ließ es mich nicht mehr los. Vielleicht sollten wir uns vielmehr auf die wirklichen Probleme der Welt konzentrieren. Noch war es nicht zu spät. Wir hatten Zeit. Ich ging. Und die kleinen Sonnen im Dunkeln erstrahlten in der Abendröte. Der Feierabendverkehr fing an.

Am nächsten Morgen klingelte der Wecker. Stille. Schweigen. Atmen. Wie viel Uhr war es? Egal. Es war Zeit, die Welt ein kleines Stückchen besser zu machen.

Autorin / Autor: Samira Schmidt, 17 Jahre