Stadtwüste

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Fabian Henry, 25 Jahre

Der eigene Atem hörte sich laut in seinen Ohren an, als er sich die Maske über das Gesicht zog und aus der Tür seiner Wohnung trat. Draußen schlug ihm eine Hitzewelle entgegen, die sich sogar durch den Stoff seiner Kleidung drückte. Pflichtbewusst schloss er die Tür hinter sich ab. Seit Ewigkeiten gab es dazu schon keinen Grund mehr.

Wenn er niemandem über den Weg lief, brauchte er sich auch keine Sorgen zu machen, dass jemand ungefragt in seiner Wohnung auftauchen würde. Einer der Vorteile sich in Einsamkeit zu bewegen. Heißer Wind trieb Sand vor ihm über die Straßen, vermischt mit den traurigen Resten von Blättern, die die nun immer mehr kahlen Bäume fallen gelassen hatten und noch nicht vergangen waren. War auch nur eine Frage der Zeit bis dahin. Der Gedanke allein, jagte ihm aber wieder einen Kloß in den Hals und statt weiter auf seinem Weg zu gehen, blieb er stehen und lief unermüdlich auf und ab, um nach einem Blatt zu suchen. Einer bestimmten Sorte Blatt.

Ein Blatt, das noch nicht so vertrocknet war, dass es ihm in der Tasche zerbröseln würde. Eines, das zumindest den Hauch von Leben in sich hatte, auch wenn es sich bereits ledrig und sterbend unter seinen Fingern anfühlen würde. Doch außer vergeudete Zeit brachte ihm diese Suche nichts. Es war zu spät. Solche Blätter würde er nicht mehr finden. Auch wenn er sich hin und wieder zu einer Suche hinreißen ließ. Aus der puren Nostalgie heraus, versuchte er es aber immer wieder. Auch wenn er bereits seine kleine Sammlung an Blättern hatte. Eine Sammlung, die er nicht wagte hervor zu holen, weil es die Blätter nur endgültig zerstören würde und kaum mehr als ein knisternder Haufen Überreste bleiben würde.

Ein letztes Mal lief er an den kahlen Bäumen, die einmal ein prächtiger, saftig-grüner Park gewesen waren, vorbei, ehe er seinen Weg fortsetzte. Vorbei an den verlassenen Hochhäusern, die noch einsamer aussahen als zu der Zeit, als sie bewohnt gewesen waren und zeitgleich einen Betonklotz der Anonymität dargestellt hatten. Die automatische Tür des kleinen Supermarkts um die Ecke ging mit einem Klingeln auf, als er im Schatten der Überdachung an ihr vorbeilief. Frisches Gemüse gab es hier schon lange nicht mehr. Es war nicht einmal mehr Fliegenfutter, welches es vor sich hin rottete. Es war einfach nichts mehr da und bevor es hätte schlecht werden können, war es weg gewesen. Als noch mehr Leute hier gewesen waren, war das auch schneller gegangen. Jetzt war er schon froh, wenn er noch Gemüse in Dosen fand. Oder irgendetwas in Dosen. Irgendetwas zum Essen. Wenn man nichts gegen Dosen hatte, dann kam man aber eigentlich ganz gut durch die Tage. Und er hatte nichts gegen Dosenessen. Nicht mehr.

Keine halbe Stunde war er gelaufen, da war seine Kleidung durchgeschwitzt. Sie klebte an ihm, ließ ihn immer wieder an dem Stoff, der sich widerlich eng an seine Haut legte, zupfen. Wie sehr wünschte er sich Laubhimmel über sich, die ihm ein wenig Schatten boten, wo keine Überdachung in Sichtweite mehr war. Unter der Atemmaske war es so warm und stickig, dass sich schon Kondenswasser an den dicken Gläsern bildete. Wider besseren Wissens lüftete er kurz die Maske, auf der Suche nach Erfrischung, aber die Luft um ihn herum war so heiß und warm, dass er sie schnell wieder nach unten zog und sich stattdessen einfach nur schneller bewegte. Auch wenn er die nächsten Schritte keuchte und schwitzte, war es ihm das wert, wenn er deswegen schnell in den Schatten kam.

Mit reichlich Anlauf lief er durch den ausgetrockneten, künstlich angelegten Kanal neben der alten Autobahn, deren Belag schon so rissig und zerstört war, dass niemals wieder ein Auto darauf fahren würde. Er sprang über Zäune von Vorgärten, rannte durch verlassene Gärten mit verbranntem Rasen, kroch durch trockene Gebüsche und schob sich zwischen wild geparkten, zurückgelassenen Wagen hindurch. Solange rannte und rannte er, bis er sich durch einen Spalt, eines halb eingefallenen Türrahmens zwängte. Noch ein Sprung ein paar Stufen hinunter und er stand in einem kahlen Raum mit ein paar Regalen. Einhändig riss er sich die Maske vom Gesicht und tatsächlich verspürte er so etwas wie eine kühle Brise. Das mochte daran liegen, dass es eine schnelle Bewegung gewesen war. Eigentlich war er aber überzeugt davon, dass er hier eine der wenigen kühlen, angenehmen Stellen gefunden hatte.
Zielgerichtet stapfte er auf ein metallenes Regal zu. Die etwas schiefen Stangen, die es zusammenhielten, waren angerostet, sahen dabei so porös aus, dass sie bei einem zu starken Windzug auseinander brechen könnten.

Vor sich legte er die Maske ab, schob sie unbeabsichtigt mit den Knien von sich fort, als er an das Regal herankroch. Mit den Bruchstücken eines Tellers hatte er etwas wie ein Sonnensegel gebaut. In dem halbrunden Schatten stand eine Tasse. Sie war gefüllt mit Erde und in dieser Erde stand ein grüner Spross. Er war so dünn und zart, dass ein Atemzug ihn umstoßen würde. Blind griff er neben sich, zerrte einen löchrigen Eimer hervor. Er zog eine schmutzige Plastikflasche, von der das Etikett bereits abfiel, zu sich und mit angehaltenem Atem tröpfelte er Wasser in den Deckel der Flasche, ehe er die wenigen Tropfen, nicht einmal so viel, dass es für einen Schluck ausreichen würde, über die dunkle Erde träufelte. Wie der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein zogen sie ein, ohne eine Spur zurückzulassen.
Seine Finger bewegten sich zu seinen vorsichtigen Atemzügen, als er sie zu dem vor sich hin zitternden Pflänzchen bewegte. Schüchtern tippte er gegen eines der winzigen Blätter, das gerade frisch spross, und flüsterte: „Komm schon, du musst weiter leben.“

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Autorin / Autor: Fabian Henry, 25 Jahre