Untergang

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Lara, 16 Jahre

„Die Meeresspiegel haben einen neuen Höchststand erreicht.“ Die kleinen Augen der brünetten Nachrichtensprecherin verschwinden in ihren Lachfältchen. Sie deutet hinter sich und in diesem Moment geschieht es: Das aufgetürmte Nest von Haaren fällt in sich zusammen.

„Hast du das gesehen?“, kreischt Anina. „Das war doch nur eine Frage der Zeit“, pruste ich. Wir hatten Wetten abgeschlossen, wie lange die Frisur noch standhalten wird. Es ist wirklich gewagt, als Nachrichtensprecherin die Gesetze der Schwerkraft dermaßen zu leugnen.

„Gib mir mal das Popcorn“, bitte ich Anina und starre gebannt auf den Bildschirm. Frau Astar, wie unten eingeblendet wird, lässt sich durch den kleinen Unfall nicht weiter stören. Es wird das altbekannte Video von der brausenden Nordsee eingeblendet.

Ich nutze die Gelegenheit, um mir eine Handvoll Popcorn in den Mund zu stopfen und verpasse deshalb, warum meine Schwester aufschreit. „Layla, schau mal! Wie hat sie es in den paar Sekunden geschafft, noch mehr Chaos auf ihrem Kopf anzurichten?“

Bevor ich antworten kann, flimmern graue Schlieren über Frau Astars Frisur. Ein Sirren erfüllt die Luft, dann wird der Bildschirm schwarz. „Echt jetzt?“ Genervt schiebe ich die flauschige Decke zur Seite, unter der ich mich eingekuschelt habe. „Mama?“, rufe ich. Ich muss einfach wissen, wie es mit Frau Astars Frisur weitergeht.

Ein Poltern ertönt und kurze Zeit später streckt sie ihren Kopf durch den Türrahmen. „Was ist?“

Meine Antwort wird durch ein ohrenbetäubendes Kreischen unterbrochen. Mein Herz setzt für einen Schlag aus. „Was ist das?“, schreie ich gegen den Lärm an. Das Kreischen schwillt an und ich presse meine Hände gegen meine Ohren, aber selbst das abgeschwächte Heulen schmerzt. Schnell schließe ich das Fenster. 

Ich kann förmlich sehen, wie jegliche Farbe aus Mamas Gesicht weicht. „Mach den Fernseher an“, fährt sie mich an. „Der ist kaputt!“, schreie ich. Mit weit aufgerissenen Augen rennt Mama in die Küche und beugt sich über das kleine Funkradio. Ihre Knöchel treten weiß hervor. “Layla, ruf Papa an”, sagt sie tonlos.

Zitternd fische ich mein Handy hervor. Meine Mutter streckt wortlos die Hand aus. “Fridolin. Hast du gehört? – Ja. Wir sind in fünf Minuten da.” Anstatt aufzulegen, lässt sie das Handy fallen.

“Wir gehen”, sagt sie zu Anina und mir.

Regen rinnt die Scheiben herunter. Im Auto sind die Sirenen noch lauter als im Haus. Meine Hand umklammert Aninas. Sie hindert mich daran, in die Abgründe meiner Gedanken zu stürzen. Mamas Erklärung ist unverständlich: Wegen der Sirenen, wegen ihrer brüchigen Stimme, vor allem aber inhaltlich.

Der Deich, der einige Kilometer nördlich von uns in die Höhe ragt, wurde erst vor kurzem auf seine Stabilität überprüft. Aber sie müssen einen Fehler gemacht haben. Einen verdammten Fehler. Jetzt strömt Wasser in die Stadt. Wir müssen fort. Weit weg oder in die Höhe, haben sie im Radio gesagt.

Anina schluchzt auf. “Sei leise”, herrscht Mama. Sie hebt eine Hand vom Steuer und presst sie auf den Mund. Sie dreht sich nach hinten und ich erkenne das weit aufgerissene Weiß in ihren Augen. “Ich liebe euch”, wispert sie. “Das wisst ihr doch, oder?” Wir nicken. “Wir dich auch”, flüstere ich. Aber sie hat sich schon wieder umgedreht und fährt wie eine Besessene.

Quietschend kommt das Auto zum Stehen. Die Regentropfen verbinden sich zu Fäden. Als ich aussteige, verschwimmt die Welt zu einem blassen Grau. Regentropfen durchstechen wie Nadeln die dünne Haut meiner Handinnenflächen. Langsam bilden sich Konturen um die Silhouette des Hochhauses vor uns. Das Leuchten des Zeichens der Deutschen Bank schmerzt in meinen Augen. Das Königsblau beginnt zu flackern und pulsiert ein letztes Mal, dann erlischt es. Wir flüchten ins Innere und warme Luft schlägt uns entgegen.
Ich entdecke Papa sofort. Er steht verloren in den Massen von Menschen, die wie Ameisen um ihn wuseln; rausrennen; reinrennen. Die Augen hinter seinen halbmondförmigen Brillengläsern starren ins Leere. Mama fällt ihm um den Hals. Sie will ihn nach draußen zerren, aber er hält sie zurück.
“Britta”, sagt er leise. “Wir schaffen das nicht. Schau dir die ganzen Menschen an. Sie wollen alle aus der Stadt. Alle.” Er dreht sich um und bahnt sich einen Weg die Treppe hinauf. Mama ruft ihm hinterher, aber er reagiert nicht.

Im achten Stock sehen wir, wie recht er hat. Durch sein Bürofenster erkenne ich die Schlangen von Autos, die sich auf den Straßen gebildet haben. Die Scheinwerfer leuchten wie Sterne in der Dunkelheit.

Anina schlägt sich die Hand vor den Mund. Sie deutet in die andere Richtung, zum Meer. Die Welt beginnt sich zu drehen und mir wird schwarz vor Augen. “Nein”, hauche ich. “Das kann nicht sein.”

Ich habe das Rauschen der Wellen geliebt. Oft bin ich nach der Schule an den Deich gefahren und habe mich in den brausenden Wellen verloren.

Aber die Wellen jetzt sind zornig. Sie schäumen vor Wut. Die Gischt spritzt meterhoch und begräbt Gärten, Häuser und sogar Kirchen unter sich. Diese Wellen sind voller Hass. Sie wollen alles niederreißen, sie wollen zerstören, genauso wie Menschen zerstören. Felder versickern in blubberndem Schlamm, Windräder zerbrechen unter den tosenden Wellen.

Es ist der ansteigende Meeresspiegel, der das verursacht. Er ist unser Untergang. Es ist ein Untergang, den wir selbst provoziert haben.

Ich öffne das Fenster und schreie. Ich schreie meine Wut, meine Angst, meine Hilflosigkeit heraus. Tränen, vermischt mit Regentropfen, peitschen gegen mein Gesicht. “Habt ihr das nicht gewusst?”, schreie ich gegen den Wind. Das Heulen der Sirenen übertönt meine Worte. Ich lehne mich gegen Mama und mir entfährt ein Schluchzen. “Habt ihr das nicht gewusst?” Sie presst mich fest gegen sich. Sie weiß genau wovon ich rede. Sie weiß, dass wir Menschen den Wettlauf gegen die Zeit verloren haben. Ich weiß, dass das das Ende ist.

Ich verstehe ihr geflüstertes Geständnis kaum. “Doch”, haucht sie und etwas in mir zerbricht. “Aber wir haben nichts getan.”

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