Versunkene Städte

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Milena Hövelmeyer, 14 Jahre

Eine Art wissenschaftliche Neugier nach versunkenen Städten, lang verlorenen Kulturen und ganze den Wellen zum Opfer gefallenen Königreiche ließ die junge Italienerin Camilla Bianchi schon jahrelang nicht mehr los. Anfangs war es nur eine kleine Idee, eine geheime Leidenschaft; doch nun schien ihr Ziel so greifbar: nach einigen erfolglosen Ausgrabungen an der Küste Griechenlands hatte einer ihrer Mitarbeiter nun valide Hinweise für eine Stadt im Osten Englands gefunden.
Derzeitig befanden sich Camilla und ihr Forschungsteam, bestehend aus drei Männern und zwei Frauen, auf dem Weg nach England. Zu Camillas Rechten saß ihre Kollegin und langjährige Freundin Lia, zu ihrer Linken der Meeresbiologe Nevio.
Angestrengt starrte Camilla auf den Bildschirm ihres Schreibgerätes, doch eine unruhige Aufregung hatte von ihr Besitz genommen und so schloss sie nach einer Weile einfach ihre Augen und ruhte für den Rest des Fluges.
Nach der Landung hielten sich die sechs noch zwei Stunden im Flughafen auf und aßen im Zuge dessen eine Kleinigkeit zu Mittag. Danach bezogen sie die reservierten Hotelzimmer und sprachen die letzten organisatorischen Kleinigkeiten mit ihren Kontakten in England ab, die ihnen Taucherausrüstung und, sollten sie fündig werden, Helfer für die Ausgrabungsarbeiten zur Verfügung stellen wollten. Danach ließen sie sich jeder in ihre Betten sinken und schonten sich in Erwartung des folgenden Tages.
Nach einem kargen Frühstück, bestehend aus nur etwas Weißbrot mit Belag, verließen sie am nächsten Morgen ihren Gasthof in Richtung Meer. Die Stadt sollte, den Aufzeichnungen des römischen Archivs nach, nahe der Küste nur wenige Minuten von ihrem Hotel entfernt gelegen sein.
Um 9 Uhr morgens dann, hatten sie ihr Ziel erreicht; scharfe Klippen türmten sich an der Küste auf, von denen aus man auf das dunkle Meer und einen schmalen Kieselstrand blicken konnte; dieser war für ihre Forschungsarbeiten abgesperrt worden. Ein älterer Mann mit heller Haut winkte sie zu sich heran: „Ein Boot wurde für Sie klargemacht“, sagte der Mann in rohem Akzent, „Ich soll Sie zum Strand runter bring’n. Da wart’n auch die ander’n Forscher.“
„Danke Ihnen“, erwiderte Camilla höflich.
Der alte Mann führte sie wortlos eine steile Treppe hinunter.  Auf dem kleinen Strandabschnitt wimmelte es von Menschen, die hastig ein Boot bereiteten oder ein weiter hinten aufgebautes Forschungszelt umschwirrten.
Ein junger Mann, der dem Alten deutlich ähnelte, kam zügig auf sie zugelaufen. Nachdem er sich mit typisch-englischer Höflichkeit als Dr. Thomas Green vorstellte, führte er sie zu einem Boot an das andere Ende des Strandes und machte sie mit einer Frau namens Celia bekannt, die einen Tauchroboter für ihre Expedition entwickelt hatte.
Die Forschungsgruppe rund um Camilla begab sich zusammen mit Celia und dem Tauchroboter auf das Forschungsboot. Der Motor wurde angeworfen und sie fuhren hinaus auf das Wasser. Nach einer halben Stunde und ungefähr einem Kilometer Entfernung zum Strand ließ Celia den Roboter hinab.
Gespannt scharrten sich die Sieben Naturforscher nun um einen Bildschirm, der ein Livevideo der Umgebung des Roboters übertrug. Einige Male keuchte eines der Mitglieder ihrer kleinen Gruppe auf, weil es glaubte, etwas gemerkt zu haben. Ansonsten unterbrach nichts die zum Bersten angespannte Stille. Und so verflossen die Stunden zäh und erfolglos, bis die Gruppe um acht Uhr abends beschloss zurück zu fahren.
Als sie also um elf an ihrem Hotel angelangt waren, wäre es nicht verwunderlich gewesen, wären die sechs müde in ihre Betten gefallen; und für fünf der ihrigen galt dies auch, nur Camilla blieb wach und durchforstete die Videoaufnahmen. Drei weitere Wochen-und es waren drei lange Wochen- vergingen in dieser Manier: morgens ein karges Frühstück im Hotel, dann direkt zur Küste und mithilfe Celias und des Tauchroboters auf die Suche nach den Dächern von alten Ruinen. Die Suche verging zäh, doch am Dienstag der vierten Woche, als Camilla einmal mehr den Tag durch das nochmalige Durchgehen des Videomaterials verlängerte, fiel ihr etwas auf: nur ein paar Sekunden am rechten Bildrand zu sehen, dann wieder verschwunden, und doch so unzweifelhaft: die schmale Spitze eines hohen Turmdachs. Camilla blickte auf die Uhr: es war halb eins, morgens, doch schon war sie aufgesprungen und hatte ihr Telefon bereits in der Hand. Sie wählte eine Nummer und hörte die schlaftrunkene Stimme Lias am anderen Ende: „Ja?“
„Ich hab was. Es besteht kein Zweifel, ich hab was!“...
Sie brauchten 45 Minuten, um das Dach mithilfe der Aufzeichnungen des Tauchroboters wieder zu finden. Celia, die beste Taucherin unter ihnen, begab sich als erste ins kühle Nass; Camilla, Thomas und Luca, welcher damals die entscheidende Aufzeichnung im römischen Archiv gefunden hatte, folgten. Der Rest der Gruppe wartete zunächst im Boot. Unter der Wasseroberfläche aber nahmen die vier Taucher genauere Aufnahmen und protokollierten die Umgebung, dabei mussten sie höchst umsichtig vorgehen, da sowohl das Material des Turms, als auch sein Zustand unbekannt waren. Siegestrunken und euphorisch betrachtete Camilla das altertümliche, reichverzierte Dach, das stark an eine Speerspitze erinnerte: Sie hatten es geschafft.
Nach dieser Entdeckung vergingen wieder einige Wochen, die sie allerdings nicht mit frustrierender Suchen, sondern mit Ausgrabungsarbeiten verbrachten; es waren weitaus mehr Helfer zusammen gekommen, Wissenschaftler aller Länder und Kontinente. Langsam war das Stadtbild einer Metropole wiederzuerkennen, die früher einmal wirklich bedeutend gewesen sein musste.
Ein riesiges Stadtzentrum setzte sich deutlich ab, welches, wenn auch durch die Zeit etwas ramponiert, wirklich beeindruckte. die Gebäude bestanden meist aus Stein, Stahl, oder sogar Glas. Große Theater waren gefunden worden, verwitterte Paläste und imposante Türme. Am Rand der Stadt hatte sich sogar ein großer Staudamm befunden, an dessen Seite menschliche Überreste gespült worden waren.
Offenbar hatten die Bewohner der Stadt auch die Brückenbaukunst ihrer Zeit perfektioniert, denn über einem großen Graben, von dem vermutet wurde einst ein Fluss gewesen zu sein, zog sich eine lange Brücke: Camilla hatte darum gebeten, die von ihr entdeckte Stadt nach den Ausgrabungen besuchen zu dürfen, um sich ein Gesamtbild machen zu können und wohlwollend hatte man es ihr gewährt. Und so tauchte sie in diesem Moment über benannte Brücke, während eine ihr nur allzu bekannte Melancholie sich in ihr ausbreitete; denn zwar würde ihnen diese Stadt vieles geben, doch war sie zerstört wurden, vielleicht von der mächtigen Kraft der Natur, doch meist waren, so hatte Camilla während ihrer Forschung gelernt die Menschen ihre eigenen Zerstörer. Sie wischte den Gedanken beiseite und ließ sich stattdessen zu einem Schild herunter, auf dem seltsame Zeichen standen:
London Bridge

Wenn wir nicht handeln, wird jede Geschichte bald von der Wirklichkeit überholt.

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Autorin / Autor: Milena Hövelmeyer, 14 Jahre