Der Mensch, der zurückkam, um die Erde zu retten

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Lena T., 18 Jahre

Das Flüstern der Engel verstummt schlagartig.
„Ich begrüße alle Anwesenden zur heutigen Verhandlung vor dem jüngsten Gericht. Gegenstand des Prozesses ist die Zukunft unseres Planeten, dessen Zustand sich in den letzten Jahrzehnten – leider Gottes – drastisch verschlechtert hat. Wir werden hierzu zwei verschiedene Standpunkte hören: den des gattungsvertretenden Angeklagten, Herrn Homo Sapiens, und den Mutter Erdes. Herr Sapiens, bitte erheben Sie sich.“
Ein adrett gekleideter, jedoch gleichzeitig unscheinbarer Mann erhebt sich von seiner Wolkenbank.
„Herr Sapiens, Sie werden grober Fahrlässigkeit angeklagt, was den Umgang mit Mutter Erde betrifft. Obwohl Ihnen klar war, was Sie mit ihr anrichten, haben Sie keinerlei Anstalten gemacht, ihr schädigendes Verhalten zu unterlassen, geschweige denn ausreichende Maßnahmen zur Besserung ihres allgemeinen Zustands einzuleiten. Sind Sie sich dessen bewusst?“
„Das bin ich, Euer Ehren“, sagt Herr Sapiens. „Auch wenn ich zu meiner Verteidigung sagen muss-“
Bevor er den Satz beenden kann, hebt der Richter abwehrend die Hände. „Halt! So weit sind wir noch nicht. Zunächst einmal möchte ich die Leidtragende hören – Mutter Erde, Sie haben das Wort.“
Ein tiefes Seufzen erfüllt den Himmel, gefolgt von einer Stimme, die von überall und nirgends zugleich zu kommen scheint: „Ach, mir wurden schon so viele schreckliche Dinge angetan, dass ich gar nicht wüsste, womit ich anfangen sollte. Ich versuche zwar, die Schmerzen zu verdrängen, aber sie sind mittlerweile einfach unerträglich geworden.“
Der Richter, dessen Gesichtsausdruck von tiefem Mitgefühl gekennzeichnet ist, wendet sich wieder Herrn Sapiens zu: „Haben Sie nun etwas zu Ihrer Verteidigung zu sagen?“
„Ja, das habe ich“, sagt dieser mit bebender Stimme. „Zumindest möchte ich noch jemanden ins Spiel bringen, der in dieser Angelegenheit nicht ganz unschuldig ist. Und zwar den Schöpfer höchstpersönlich.“
Eine Pause tritt ein, dem Richter bleibt die Luft weg. „Den Schöpfer? Was in aller Welt könnte der Schöpfer damit zu tun haben?“ Es ist vielmehr eine rhetorische Frage als eine, auf die er eine Antwort erwartet, dennoch meldet sich Herr Sapiens prompt zu Wort: „Nun – war er es nicht, der all das, was Mutter Erde widerfahren ist, erst initiiert hat? Wäre Mutter Erde nicht noch am Leben, könnte man ihn glatt als Auftragskiller bezeichnen.“
Plötzlich erfüllen Blitz und Donner den Himmel, und die tobende Stimme des Schöpfers hallt von oben herab: „IST DAS EIGENTLICH IHR ERNST?! SIE MACHEN MICH FÜR IHRE SÜNDEN VERANTWORTLICH, OBWOHL SIE GENAU WISSEN, DASS ICH STETS GUTES IM SINN HABE? SIE SOLLTEN SICH SCHÄMEN!!“
„Das tue ich mittlerweile auch“, erwidert Herr Sapiens kleinlaut. „Trotzdem muss ich Euch darauf aufmerksam machen, dass Ihr derjenige wart, der uns Menschen unter anderem befohlen hat, uns die Erde untertan zu machen – mit fatalen Folgen.“
Geräusche der Entrüstung, dann ertönt erneut die dröhnende Stimme: „UND WAS, DENKEN SIE, MEINTE ICH DAMIT? SAGTE ICH ETWA: SEID FURCHTBAR UND MEHRET EUCH UND VERMÜLLET DIE ERDE? NEIN! ICH SAGTE: SEID FRUCHTBAR UND MEHRET EUCH UND FÜLLET DIE ERDE! IHR SOLLTET SIE MIT LEBEN FÜLLEN, NICHT MIT ZERSTÖRUNG! UND ÜBERHAUPT: WAS VERSTEHEN SIE UNTER UNTERTAN MACHEN? REGENWÄLDER ABZUHOLZEN, TIERARTEN AUSZUROTTEN, MEERE ZU VERSCHMUTZEN UND TONNEN VON TREIBHAUSGASEN IN DIE LUFT ZU PUSTEN?“
„Was bedeutet es denn, wenn ich fragen darf?“, fragt Herr Sapiens, gespielt ahnungslos.
„NA, WAS WOHL? ES BEDEUTET, DIE ERDE NICHT ALS IMPERIUM, ÜBER DAS ES ZU HERRSCHEN GILT, SONDERN ALS GESCHENK ZU BETRACHTEN. MUTTER ERDE GEBÜHRT RESPEKT!“
„Offensichtlich liegt hier ein begriffliches Missverständnis vor“, schaltet der Richter sich ein, um Neutralität bemüht, wird jedoch gleich von Gott beiseite gewischt.
„ACH, PAPPERLAPAPP! IN DIESER ANGELEGENHEIT BRAUCHT MAN EINFACH NUR GESUNDEN VERSTAND – WOHLGEMERKT NICHT MENSCHENVERSTAND, DENN DER IST JA OFFENBAR ZU NICHTS NÜTZE. WAS GIBT ES DA ÜBERHAUPT ZU DISKUTIEREN? DIE VORWÜRFE MIR GEGENÜBER SIND HALTLOS UND NOCH DAZU KOMPLETTER SCHWACHSINN!“
Stille. Dann erneut die Stimme Gottes, mit einem Mal vollkommen ruhig und sachlich: „Ich schlage einen Vergleich vor. Euer Ehren?“ Der Richter seufzt geschlagen. „Wie könnte ich einer Einigung im Wege stehen?“
„Sehr gut“, sagt Gott zufrieden. „Dann lege ich im hiermit einen Neuentwurf der Zehn Gebote vor.“ Kaum ist der Satz verklungen, schwebt ein Blatt Papier sanft vom Himmel herab, direkt auf Herrn Sapiens zu, der es auffängt und laut vorliest:
10 Gebote für eine bessere Zukunft
Erstes Gebot: Du sollst keine andere Erde haben neben mir – THERE’S NO PLANET B!
Er blickt auf, einen verständnislosen Ausdruck im Gesicht. „Wärt Ihr vielleicht so freundlich, mir dieses Dokument zu erläutern? Ich sehe hier nämlich nur ein Gebot.“
„Sicher“, erwidert Gott geduldig. „Erst, wenn das Erste Gebot – welches meiner Meinung nach auch das wichtigste ist – wirklich beherzigt wurde, taucht das zweite auf, und so weiter. Nur auf diese Weise findet ein – wie ich hoffe – nachhaltiges Umdenken zu Gunsten Mutter Erdes statt. Allzu viel Zeit sollten Sie sich allerdings nicht lassen.“, fügt er scharf hinzu.
Herr Sapiens zögert nicht lange. „Ich nehme den Vergleich an.“
„Betrachten Sie ihn auch als bindend?“, bohrt der Richter nach. „Denn falls Sie nur zustimmen, um einem Urteilsspruch zu entgehen – nun, Sie wissen ja, was dann auf Sie zukommt: die alles vernichtende Sintflut.“
„Was denken Sie eigentlich?“, antwortet Herr Sapiens empört, „Dass ich meinen eigenen Untergang herbeisehne? Den Eindruck habe ich vielleicht bisher erweckt, aber ich gedenke keinesfalls, noch einmal dieselben Fehler zu begehen, sondern stattdessen alles wiedergutzumachen, was ich angerichtet habe.“
Und mit diesen Worten schreitet er durch die sich öffnenden Himmelstore der – hoffentlich  besseren – irdischen Zukunft entgegen.

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Autorin / Autor: Lena T., 18 Jahre