Deine Tochter

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Aleyna S., 19 Jahre

Stell dir vor,
wie eines regnerischen Herbsttages ein winziger Mensch sein Augenlicht öffnet und zu einem weiteren Erdenbewohner wird.
Deine Tochter erblickt mit ihren hellbraunen Rehaugen das Licht dieser Welt.
Dein Fleisch und Blut, sie besitzt die selben Haare wie du: wilde, ungestüme Locken, welche im Wind verwehen.
Unter dem hellblauen Himmel scheint ihr Lachen die Sonne zu ersetzen.
Dein Lebenssinn. Deine Quelle der Harmonie.
Und sie wächst schnell heran zu einer mutigen, jungen Frau.

Die Frau mit dem Kopf in den Wolken...
Die Frau mit den wilden Locken, die mit der Meeresluft eins werden, sobald die Möwen über ihrem Kopf kreisen.
Die Frau mit den honigbraunen Augen, welche mit der Sonne zu einem einzigartigen Schauspiel verschmelzen.
Die Frau mit der Sehnsucht in ihrem Herzen, welche sie in die große weite Welt treibt.
Die Frau, welche innig fühlt und liebt. Jede Faser, welche sie atmen lässt. Leben lässt.
Die Frau, welche die salzige Meeresluft so tief in ihre Lungen zieht, dass in ihrem Inneren ein eigener endloser Ozean entsteht.
Ist sie wütend so schlagen die tosenden Wellen zornig gegen die steinige Küste. Zieht sie ihre dunklen Augenbrauen zusammen so ziehen dunkle Wolken auf dem wilden Ozean in ihr auf. Der Himmel wird pechschwarz. Die Dunkelheit legt sich wie ein Schleier über die Atmosphäre und schluckt jeden Ton.
Der Meeresschaum der Wellen spritzt hoch an die felsigen Küsten ihres inneren Wesens.
Das Grollen des Donners prallt an die Felswände und hallt wider.

Doch herrscht Frieden und Einklang in ihr, so glitzern die warmen Sonnenstrahlen auf dem Wasser. Wie bei einem Schauspiel, schafft es keiner die Augen von diesem Anblick zu nehmen.
Das sanfte Rauschen der Wellen hypnotisiert einen regelrecht.
Man lauscht gebannt den Wellen, welche kommen und gehen.
Es ist eine Endlosschleife.
In der frischen Luft hängt ein besinnlicher Duft. Eine Mischung aus zarten Rosenblättern und frischen Sommerblüten betäubt die Sinne.
Man ist verzaubert von der Schönheit dieser Frau.
Sie ist ein unberechenbares Wesen, nicht gemacht für einen Käfig.
Denn das Gefühl nach Freiheit in ihr lässt sie alle kalten, eisernen Stäbe verbiegen.
Denn die Sehnsucht nach ihr, lässt sie durch jede brennende Wüste dieser Welt laufen.
Barfuß, schutzlos.
Denn ihre Liebe ist so stark, dass sie nichts anderes mehr spürt.
Nichts hält sie auf.
Ihre Liebe ist bedingungslos.

Voller Bewunderung beobachtest du ihr Wesen...
Wild wie ein Löwe aus der Savanne und gleichzeitig so sanft wie ein zarter Schmetterling.
Paradox.

Eines ruhigen Abends wirst du aus deinem harmonischen Schlaf gerissen, als ihre verzweifelten Schreie dir durch Mark und Knochen fahren.
Du springst voller Angst auf, suchst und suchst mit tränenüberströmtem Gesicht nach ihr.
Überall.
Aus einem verwilderten Wald hörst du ihre kläglichen Schreie.
Du siehst sie gefangen, in einem eisernen, kalten Käfig um Hilfe bettelnd. Ihr hellblaues Kleid hängt in Fetzen an ihrem ausgehungerten Körper, welcher mit tiefen, blutigen Schnittwunden übersät ist. Die braunen Locken abrasiert, lediglich dunkle Stoppel an ihrem Kopf sind Zeugen von dieser ehemaligen Haarpracht.
Und das, was dir innerlich am meisten unaushaltbare Schmerzen bereitet sind ihre Augen.
Nur zwei dunkle Schlunde in ihrem blassen, ausgemergeltem Gesicht.
Deine Seele brennt, ein unerbärmliches Feuer lodert lichterloh in deinem Inneren.
Zorn, Trauer, Schmerz und Schuldgefühle mischen sich zu einem aussichtslosen Durcheinander.
In dem Sog deines eigenen Gefühlsozeans fühlst du dich, als würdest du ertrinken.
Dein verzweifelt keuchender Atem vermischt sich mit einem röchelnden Husten. Nach Luft schnappend hustest du tiefrotes Blut. Die heißen Tränen hinterlassen Spuren, während sie langsam über dein vor Schmerz verzogenes Gesicht rollen.
Wie konnte man nur?
Wer konnte so etwas tun?
Du willst schreien, um Hilfe rufen, du willst sie befreien und ihre blutigen Wunden heilen.
Doch aus deinem Mund kommt kein Laut. Wie paralysiert ist dein Körper erstarrt. Ein stiller Schrei.
Deine kraftlosen Hände klammern sich mit dem letzen Fünkchen Hoffnung an den eisernen Käfig, bis deine weißen Knöchel zu sehen sind.
Da sitzt sie zusammengekauert in der Ecke. Diese Rehaugen, welche dich jeden Tag zum Lächeln brachten, für die du unendlich dankbar warst...sie schauen dich an. Von dunklen Wimpern gesäumt, mit bitteren Tränen benetzt, blickst du nur in ein tiefes, schwarzes Loch.
Ein hoffnungsloser Trümmerhaufen, zerstört von einem erbarmungslosen Erdbeben.
Deine Seele blutet, dein Inneres ist aufgewühlt.
Wie erstarrt beobachtest du wie ihr Atem flacher wird, ihre blutigen Hände zittern.
Du siehst, wie sie dir einen letzen Blick zuwirft, die dunklen Augen wie in Zeitlupe zufallen. Ihr Brustkorb sich das allerletze Mal hebt und dann für immer senkt.
Du brichst zusammen.
Dein Lebenssinn ist von dir gegangen und du konntest nur hilflos zusehen.
Doch diesen letzen Blick...wirst du immer in Erinnerung  behalten.
Bis an dein Lebensende.
Vorwurfsvoll, fast beschuldigend sah sie dich in diesem letzen Augenblick an.
"Du bist schuld!", schienen ihre Augen dir wütend sagen zu wollen.
Doch was hattest du getan...?
Du warst dir keiner Schuld bewusst.

Doch sie hatte Recht.
DU warst Schuld.
Du, die Person, die das hier liest.
Ja, genau du.

Diese Frau hieß "Mutter Natur".
In ihr steckte die Natur in ihrer reinsten Form.
Die honigfarbenen, fast bernsteinfarbenen Augen.
Ihre wilden Locken, unkontrollierbar, vom Winde verweht.
Ihr verzaubernder, blumiger Geruch.
Ihr ungestümes Wesen, ihr Temperament.
Ihr innerer Ozean.
Unkontrollierbar. Wie die Natur.
Siehst du sie denn nicht? Die Natur in ihr?

Und Du hast zugesehen, wie sie vor deinen Augen verendete.
Von dem Moment an, an dem du das Licht dieser Welt erblicktest, wurde dir dieses Geschenk gegeben.
Doch du hast es nicht genug geschützt, nicht behütet wie dein Eigen.
Nicht genug wertgeschätzt.

Durch Abholzungen versetzen wir ihr tiefe, blutige Schnittwunden.
Durch Ausbeutung lassen wir sie elendig verhungern, bis uns lediglich ein knochiger Körper bleibt.
Durch den verantwortungslosen Gebrauch von Ressourcen, rasieren wir ihr bis auf das letze Haare alles ab.
Dadurch, dass wir Tiere in Käfigen einsperren, nehmen wir ihr alle Freiheit.
Dabei vergessen wir, dass einem Vogel ein einfacher Ast lieber ist als jeder goldene Käfig.
So sehr wir auch versuchen, die Natur uns untertan zu machen, so strebt diese nur nach grenzenloser Freiheit.

Auch, du. Ja, du vor dem Bildschirm.
Bereue nicht das Ausmaß deiner Destruktion, wenn es zu spät ist. Sondern tu etwas dagegen, bevor es zu spät ist.
Es ist deine Um-welt. Die Welt um dich drumherum.
Hüte sie wie deinen eigenen Augapfel, wie deine eigene Tochter aus deinem Fleisch und Blut.
Denn auch in uns steckt Natur.
Einzig und allein die Augen der Menschen verkörpern sie: Mutter Natur.
Blaue Augen spiegeln sich im Himmel wider, grüne Augen blühen an den prächtigen Baumkronen und braune Augen sind in der Erde vergraben.
Sie befindet sich in jedem von uns.
So lass das, was dich am Leben hält, nicht verenden.
Lass nicht zu, dass es so endet wie hier.
Mache einen Unterschied.
Bei dir fängt es an.

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