Die Wolkenfabrik

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Tim, 23 Jahre

Schon seit Stunden liege ich wach im Bett und höre dem Regen zu. Früher hatte das eine beruhigende Wirkung auf mich. Je stärker das Unwetter, desto gemütlicher das Bett. Heute ist alles anders. Das Rattern eines Güterzugs, auf dem Weg zum Industriegebiet, reißt mich aus meinen Gedanken und ich schalte das Radio ab. Augenblicklich hören die Regengeräusche auf und eine bedrückende Stille breitet sich im Zimmer aus. „Aufstehen Anna. Zeit für's Frühstück.“
Stille. Vorsichtig öffne ich die Tür zu ihrem Zimmer. Niemand da, aber ihr Schlafanzug liegt auf ihrem Bett. Ich unterdrücke die aufkommende Panik in mir. Wahrscheinlich ist sie schon im Gemeindezentrum und hilft das Frühstück vorzubereiten. Schnell ziehe ich mich an und gehe los. Inzwischen ist die Gemeinschaft so groß geworden, dass wir vier Zentren haben, in denen alle Bewohner zusammenkommen. Anna hat sich in den letzten Monaten schneller eingelebt als ich. Ihr gefällt die neue Schule, in der sie direkt Freunde gefunden hat. „Landwirtschaft ist mein neues Lieblingsfach.“, hatte sie schon nach dem ersten Tag gesagt. Jetzt fühlt es sich an, als hätte ich sie Jahre nicht gesehen. Hektisch stoße ich die Tür vom Gemeindezentrum auf und betrete den Frühstückssaal.
„Die Rationen mussten wieder gekürzt werden.“ Alex kommt auf mich zu. Er hatte mich damals davon überzeugt, meinen Job als Architektin zu kündigen und aus der Stadt in die Gemeinde zu ziehen. „Zu viele Neuaufnahmen, zu wenig Regen. Heute müssen wieder Kühe notgeschlachtet...“

„Wo ist Anna?“, unterbreche ich ihn.
Er starrt mich an. „Hab sie nicht gesehen.“
Die Panik lässt sich jetzt nicht mehr unterdrücken. Schnell laufe ich durchs Zentrum und suche alles ab. Alex folgt mir. Nach 15 Minuten ist der Saal voll mit Kindern und ihren Eltern, aber keine Anna.
„Vielleicht ist sie zu Thomas.“
Meine Lippen fangen an zu zittern und ohne es zu merken gehe ich langsam auf die Telefonzelle in der Ecke des Saals zu. Hat sie ihren Vater so sehr vermisst?
„Ja?“ mein Exmann klingt müde.
„Ist Anna bei dir?“
„Was?... Nein. Wo ist sie?“
„Heute morgen lag sie nicht in ihrem Bett. Thomas ich hab alles abgesucht. Sie...“
„Ich komme sofort.“ unterbricht er mich.
Noch vor einem Jahr hätte ich mich darüber aufgeregt, wenn er mir so ins Wort fällt.

„Bei diesen Hippies willst du wohnen und auf all das hier verzichten?“ hatte er damals gerufen.
„Diese Hippies haben wenigstens verstanden, dass wir inzwischen Kompromisse eingehen müssen.“
„Für die liebe Umwelt, hm?“
„Für die Welt. Die Welt deiner Tochter. Die Dürre wird sich auch noch auf dein Leben auswirken.“ Noch nie hatte mich seine Ignoranz so wütend gemacht. Einen Monat nach dem Streit zogen Anna und ich in die Gemeinde. Jetzt frag ich mich, ob das nicht alles ein Fehler war.

Immer noch weinend öffne ich die Tür und Thomas betritt mit einem Polizisten meine Wohnung.
„Wir haben bereits eine Vermisstenanzeige an alle Reviere geschickt. Wenn sie sich in der Stadt verlaufen hat, werden wir sie finden. Hier draußen jedoch...“ Der Polizist blickt aus dem Fenster zu den am Horizont aufkommenden Wolken. „sind wir auf ihre Hilfe angewiesen.“
Thomas beginnt meine Sachen zu durchwühlen. „Hast du kein aktuelles Foto?“
„Hier in der Schreibtischschublade.“, stottere ich.
Achtlos kippt er den ganzen Inhalt im Zimmer aus.
„Wir gehen natürlich noch nicht von einem Verbrechen aus...“, beginnt der Polizist, aber ich höre ihm kaum noch zu, denn unter den verschiedenen Fotos auf dem Boden, fällt mir ein Bild auf, das Anna in der ersten Woche, nach unserem Umzug gemalt hatte. Langsam knie ich mich hin, um es genauer zu betrachten. Die Wolkenfabrik hatte sie mich damals auf die Rückseite schreiben lassen. Die ersten Wochen als Architektin in der Gemeinde waren anstrengend. Anstatt Brücken sollte ich nun Häuser aus recycelten Rohstoffen entwerfen, sodass ich bis spät in die Nacht arbeitete. Erst jetzt betrachtete ich die Häuser mit den langen Schornsteinen zum ersten mal genauer. „Ich brauche sofort dein Auto!“
Thomas guckt mich verdutzt an. „Hab schon seit ein paar Wochen keins mehr... Benzin wird zum Luxusgut. Zur Zeit fahren fast nur Rettungskräfte mit ihren Autos.“
Sofort springe ich auf und renne raus. „Bleibt hier, falls sie zurückkommt.“
Wie konnte ich nur so dumm sein. Natürlich vermisst Anna ihren Vater. Natürlich vermisst sie ihr altes Leben. So schnell ich kann, renne ich zum Ende der Gemeinde. Ohne anzuhalten lasse ich das Gemeindezentrum und die riesigen Gewächshäuser hinter mir. Querfeldein laufe ich über die trockenen Acker. Zur Zeit können die Landwirte eh nichts anbauen. Gleich dahinter stehen die Zelte und Container der Flüchtlinge. Menschen, die vor Dürren flohen, treffen hier auf Menschen, die den Sintfluten entkamen, aber bald wird es auch hier keine Rettung mehr geben. Ich zwinge mich weiter zu rennen und endlich, nach gefühlt einer Ewigkeit erreiche ich die Schienen. Um Luft zu holen bleibe ich kurz stehen. „Anna!“
Keine Antwort. Ich zittere am ganzen Körper, aber ich weiß es einfach. Irgendwo hier ist meine Tochter. Mit jedem Schritt kommt das Industriegebiet näher, aber von Anna fehlt jede Spur. Erneut steigen mir Tränen in die Augen. Ich wische sie weg und renne weiter. Dann in der Ferne sehe ich einen winzigen Punkt. Er bewegt sich nicht, schießt es mir durch den Kopf und ich renne noch schneller. „Anna!“ Keine Antwort, aber der Punkt kommt immer näher.
„Anna!“ rufe ich erneut und spüre, wie mein Herz einen Schlag aussetzt, als ich ein Schluchzen höre.
„Mama?“
„Oh Gott. Anna!“ Ein letztes mal steigere ich das Tempo, lasse mich neben Anna auf den Boden fallen und schließe sie in meine Arme. Nie mehr lasse ich sie los. „Wir haben uns solche Sorgen gemacht.“
Auch Anna beginnt zu weinen. „Ich wollte in der Wolkenfabrik nur um Regen bitten Mama, aber als der Zug kam bin ich umgeknickt.“
„Alles wird wieder gut“ versuche ich sie zu beruhigen und wie aus dem nichts fällt ein Regentropfen auf Annas Stirn. „Alles wird gut. Es gibt noch Hoffnung.“

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