Der Kranich

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von G. Ifkovits, 25 Jahre

An ihrem vierten Tag im Drei-Schluchten-Tal entdeckte sie den Kranich, der in einem Tümpel aus Schlamm, Styropor und Luftpolsterfolie feststeckte. Atemlos blinzelte sie gegen die Sonne an. Eine Mischung aus Unglauben und Dankbarkeit pochte in ihrer Brust. Seit Wochen hatte sie nichts Lebendigeres als einen halbverhungerten Rothund und die noch zuckende Schwanzspitze einer toten Viper zu Gesicht bekommen.
Eilends warf sie ihren Rucksack ab und lief los. Von der staubtrockenen Erde ins Flussbett des Jangtse. Bis zu den Knien versank sie im dunklen, zähflüssigen Morast, strich auf ihrem Weg Plastikflaschen zur Seite, Dosen, Aluschalen, Pappbecher, ein Paar quietschgrüne Crocs und einen zerfledderten Fahrradschlauch.

Während sie so durch das Wasser watete, ruhte ihr Blick auf dem Vogel.

Aus knopfgroßen, schwarzen Augen erwiderte er ihre Musterung ausdruckslos.

„Alles gut“, flüsterte sie, als sie bei ihm ankam, und streckte eine Hand aus. „Keine Angst, ich tu' dir nichts.“

Ehe sie ihn berühren konnte, hob er den Schnabel gen Himmel und krächzte. Der Laut jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Instinktiv wich sie zurück.

Vergebens versuchte der Kranich, seine verklebten Flügel auszubreiten, und strauchelte. Was von seinen dürren Beinen aus dem Wasser ragte, schlotterte wie Espenlaub. Blut floss in einem dünnen Rinnsal über die linke Flanke seines Gefieders.

„Du bist verletzt“, sagte sie. Ihre Stimme klang heiser. Sie musste an Martin denken, der kurz vor dem Ende nur noch gehustet hatte, und schluckte schwer. „Ich kann dir helfen.“
Diesmal näherte sie sich behutsamer und der Vogel ließ sie gewähren. Sein Hals bebte unter ihren Fingerspitzen. Einen Moment fürchtete sie, er würde der Versuchung nachgeben und auf sie einhacken. Ein nervöses Gurgeln entstieg seiner Kehle, aber er hielt still.

Sie inspizierte ihn wie sie es früher bei einem ihrer Patienten getan hätte. Sein linker Flügel war steif und schmerzempfindlich. Mühevoll hob sie ihn an und begutachtete die Wunde, die sich darunter verbarg. Gelenksnah durchbohrten die Überreste eines Maschendrahtbündels die Haut.

„Bist du alleine?“, fragte sie sanft, als sie sich wieder aufgerichtet hatte. Sie griff nach der Luftpolsterfolie, die sich um den Kranich geschlängelt hatte, und begann sie Stück für Stück zu zerreißen. „An den hiesigen Flussmündungen soll es noch Alligatoren geben. Vielleicht die letzten ihrer Art. Ich suche nach ihnen – schon eine ganze Weile – und inzwischen hab' ich auch niemanden mehr. So wie du.“ Sie schmeckte Salz. Ihre Lippen brannten. „Geschieht uns recht dafür, bleiben zu wollen, hm?“

Lächelnd wischte sie sich übers Gesicht und glaubte, in den starren Augen des Vogels Verständnis aufblitzen zu sehen. Sie grub ihre Hände in den Schlamm und schaufelte, bis der Kranich mit den Knien wackeln konnte. Mehr Maschendraht trat zutage – ein ganzes Geflecht, das die filigranen Krallen gefangen hielt.

Stöhnend beugte sie sich vor und versuchte das Gitter mit purer Gewalt aus dem Boden zu stemmen. Vergeudete Mühe. Es saß fest.

„Verdammt“, keuchte sie.

Der Kranich legte den Kopf schief.

„Warte hier.“

Sie drehte sich um und stapfte aus dem Flussbett. Der Wind peitschte ihr um die vollgesogenen Hosenbeine. In den Tiefen ihres Rucksacks stieß sie auf Martins rostiges Taschenmesser. Besser als nichts. Ihre Hände zitterten, als sie in den Jangtse zurückkehrte. Der Sand hatte die Mulde wieder verschlossen, sie musste sich erneut bücken und wühlen.

„Die Talsperre flussabwärts ist seit 2021 verlassen“, erzählte sie, um ihrem Mund etwas zu tun zu geben. „Ich hab' überlegt, ein paar Tage dort zu bleiben. Im Kontrollraum. Wenn ich es schaffe, die Turbinen zu füllen, hätte ich sogar Strom. Kannst du dir das vorstellen? Strom.“ Schweiß tropfte von ihrer Oberlippe. Sie ließ die stumpfe Klinge über den Draht schaben.
Ein herangespülter Plastikeimer donnerte ihr gegen die Schläfe. Winselnd rieb sie sich die Stelle, das Gesicht schmerzverzerrt. Der lange Hals des Kranichs senkte sich zu ihr hinab und schmiegte sich an ihre Seite.

Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihr jemand zuletzt so nahe gewesen war.

„Du würdest Martin gefallen“, murmelte sie. „Wie ich ihn kenne, hätte er dir bestimmt einen Platz im Arche-Projekt gesichert. Oder was davon noch übrig ist.“ Nacheinander kappte sie ein paar Stränge und verformte das Gitter, bis der Vogel seine Füße hindurchziehen konnte.

Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und schüttelte sich.

„Du kannst gerne mitkommen“, sagte sie, wie sie dort im Morast hockte und zu ihm aufblickte. „Zum Staudamm, meine ich. Wetten, die haben einen Erste-Hilfe-Koffer vorrätig? Ich kann dir eine Bandage anfertigen. Für deinen Flügel.“

Der Kranich ignorierte sie und entfernte sich vorsichtigen Schrittes. Weiter und weiter. Die blaue Stunde war am Hereinbrechen, der Himmel kalt und klar. Ein Gemälde des Untergangs.
„Wir beide – wir sind vielleicht die letzten!“, rief sie ihm hinterher, die Hände zu Fäusten geballt. „Geh nicht! Bitte! Bitte bleib!“
Gemächlich stakste er tiefer ins Wasser.

Ihre Augen folgten der karmesinroten Krone, bis die Abenddämmerung den Vogel verschluckt hatte und der letzte Hoffnungsschimmer in ihr erlosch. Sie tat das Einzige, das ihr übrigblieb.
Stumm setzte sie ihren Weg fort.

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Autorin / Autor: G. Ifkovits, 25 Jahre