Mama, bitte verlass mich nicht

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Sara Gerner, 22 Jahre

Ich breite meine Arme aus und lege mich in deinen noch grünen Schoß. Die Schuld versperrt meinen Hals, mein Gewissen, gleich zerplatzt es in Selbstaggression.
Denn ich presse meine Hand gegen deine Brust und -
ich spüre einen Herzschlag, der mir Angst macht.

Mama.
Erzählst du mir jetzt, was los ist mit dir?
Denn du, du kannst es nicht mehr abstreiten. Deine Natur beginnt zu verwelken, deine bunten Kleider waschen sich aus, denn die Luft kann sie nicht mehr reinigen.
Wenn ich in deine zwei verschiedenfarbigen Augen blicke, erglüht in mir die Sehnsucht, dich festzuhalten und zu umarmen, doch zugleich spüre ich diesen Kloß in meinem Hals. Denn ich habe etwas übersehen und ich sehe es in deinem Blick.
Dein grünes Auge, es spross doch so vor lebendiger Begeisterung. Und jetzt. Jetzt scheint es vertrocknet und so ausgebrannt, als hätte dir jemand alle Wurzeln ausgerissen. Und dein anderes! Es verblasst in einem milchigen, öligen Schleier, deine schwarze Pupille versinkt in dieser ausgebleichten, blauen Farbe.

Mama.
Warum schlägt dein Herz so langsam?
Sag nichts, ich weiß es doch schon lange.
Mit meinen Kinderfingern fahre ich durch deine erdigen Stoppelhaare, sie vibrieren unter meinen Händen, doch fassen kann ich diesen vergrauten Rasen nicht. Deine Haare, kein Wind wird sich darin verfangen, deine so langen Haare, sie fielen dir aus.
Aber sie sind nicht wegen deines ansteigenden Alters ausgefallen, nicht wahr, Mama?

Dein Lavaherz, es schlägt kaum noch. Wird es versteinern und zerbröckeln wie der Rest von dir? Deine erdige Haut verwandelt sich langsam in Stein, und sie reißt so langsam wie ein Damm. Diese brennende Flut würde mich in Trauer ertrinken lassen, doch dein flammendes Blut wird mir keine Zeit lassen, zu trauern.

Ich höre dein erschütterndes Beben, nachts werde ich von deinem Schluchzen geweckt. Doch wenn ich mich zu dir setze, wenn ich mir die Zeit nehme, dann lächelst du mich tapfer an, als wärst du innerlich nicht tot. Dann schenkst du mir die Ruhe, zu atmen und fängst mich selbstlos auf, wenn ich alle meine alltäglichen Sorgen, meinen gesamten Stress in dich hineinschreie.

Du wirst mich weiterhin mit Leben versorgen, du wirst weiterhin alles für mich geben, während ich mich dafür entscheide, gegen deinen ansteigenden Fieberkrampf nichts zu unternehmen.
Denn ich fahre lieber mit dem Auto, als das kurze Stück zu Fuß zu gehen.
Ich entscheide mich für Plastik, kralle meine Finger in die billige Kleidung, kaufe sie schnell, denn die nächste Kollektion kommt zugleich.
Ich rede mir ein, dass ich Palmöl wähle, weil es besser schmeckt, weil es doch eh nachhaltig angepflanzt wird. Und die Werbung, mit Erleichterung lasse ich mich blenden.
Ich glaube ihr, wenn sie dich liftet und schminkt, wenn sie mir verkaufen will, dass du doch so gesund bist, und dass die Gefahr, dich zu Tode zu wirtschaften, diese Gefahr doch nur eine falsche Nachricht ist. Alles fake.
Wenn deine Schminke dann verläuft und die grünen Lügen sichtbar werden, schockiert mich die Wahrheit so lange, bis ich wieder den bequemeren Weg wähle.

Aber das ist jetzt vorbei.

Denn ich weiß es ja, muss nur das Wetter beobachten und spüre es mit meinem gesamten Körper, wie du langsam stirbst. Die Tränen auf meinen Wangen retten mich nicht, rechtfertigen mich nicht, solange ich mich wie ein egoistisches Einzelkind aufführe, dass seiner selbstlosen Mama endlos das Geld aus den Adern pumpt, weil es nie gelernt hat, zufrieden zu sein. Weil ich nie gelernt habe, dich wertzuschätzen, nicht alles als selbstverständlich zu betrachten und dir etwas zurückzugeben.

Mama. Für ein Danke ist es jetzt zu spät, doch du sollst wissen, dass ich dich schätze, dass ich dich bewundere und dass ich dich retten werde, damit ich nicht die letzte Generation bin, die eine selbstlose Liebe erfährt.

Ich habe den Arzt schon angerufen. Er heißt Veränderung. Ich denke, er wird uns beiden helfen können.

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