Mein Schrei

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Paula Johanna Wolfram, 18 Jahre

Ich spüre die Abendkühle auf meinem Gesicht. Doch da ist dieses Verlangen in mir. Ich will sie überall spüren, zwischen meinen Fingern, unter meinen Füßen, auf meiner Haut. Ich will auf den feuchten Wiesen liegen, meine Nase in dem Gras vergraben, Grashalme an meinen Körper kleben haben, mich durch die Erde rollen, durch den Fluss waten, mich in das kalte Nass setzten. Ich will die Bäume umarmen, das Moos und die raue Borke spüren. Ich will rennen, so schnell, dass meine Lungen zerspringen und meine Beine nachgeben. Ich will atmen, so tief, dass ich den Sauerstoff in jeder Zelle meines Körpers spüre. Ich will lachen, weinen, schreien, heulen, brüllen. Ich will schreien, den lauten, unbändigen Schrei der Natur. Meine Augen schließen sich, meine Lungen füllen sich mit Luft, mein Körper spannt sich an, ich öffne meinen Mund - doch mein Schrei wird erstickt.
Erstickt von Bergen aus Müll. Die Bäume sind verschwunden, all das Grün ist ausgeblichen zu einem Grau. Der Fluss ist ausgetrocknet und gefüllt mit Müll. Ich weiß nicht, wie ich hierherkam, hatte ich doch nur kurz meine Augen geschlossen. Wo ist der Wald? Wo ist all das Schöne?
Meine Füße versinken in Abfall, langsam, fast unmerklich, aber ich fühle es, ich bin mir sicher, ich weiß es. Statt der frischen Abendkühle weht mir ein heißer Wind ins Gesicht. Meine Haut wird trocken und rau wie die Baumrinde. Ein entsetzlicher Gestank breitet sich um mich herum aus. Ich kann nicht mehr schlucken, mich nicht mehr bewegen, nicht mehr blinzeln. Brennender Müll, zusammengeschrumpelte Tüten, Verpackungen.
Und dann – und dann, mein Name, mein Name auf all dem Müll, auf all dem Abfall. Er prangt dort, anklagend, in großen, hässlichen Buchstaben. Ich will meine Arme heben, vor meine Augen pressen, will wegsehen, vergessen. Doch ich kann nicht, ich bin wie festgefroren, bin gezwungen, dass Schauspiel zu beobachten. Der Gestank wird schlimmer, die Berge aus schmutzigem Plastik größer, schwarzer Rauch steigt in riesigen Wolken auf. Meine Beine knicken ein. Ich liege auf einem Totenbett aus Müll und die Hitze wird unerträglich und die Flammen kommen näher. Und endlich löst sich ein Schrei in meiner Kehle.
Es ist ein Schrei des Entsetzens.

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Autorin / Autor: Paula Johanna Wolfram, 18 Jahre