Worte eines Schulmädchens

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Silja Schröder, 19 Jahre

Ich schaue in den Spiegel über dem Waschbecken. Er ist ziemlich sauber, obwohl es der Spiegel eines Schulklos ist. Die Seife in meinen Handflächen ist blassrosa und riecht fast sogar angenehm. Von meinen Händen wandert mein Blick zu meinen Augen: grüne Augen, die mich aus dem Spiegel heraus anstarren, Augen, die ich schon so oft gesehen habe. Sie haben sich wenig verändert, denke ich, über all die Jahre. Anders als das Gesicht um sie herum: Die Haut wirkt etwas vergilbt und glanzlos, zahllose Falten erzählen die Geschichten eines langen Lebens. Lachfalten um die Augen, Sorgenfalten auf der Stirn. Mit der Hand fahre ich mir durch die Haare und versuche ihnen so wieder ein bisschen ihres alten Volumens einzuhauchen. Es gelingt kaum. Das helle Grau lässt sie dünner wirken. Schwächer. Älter. Ich seufze. Du bist jetzt Rentner, sagt eine Stimme in mir drin. Rentner sehen immer alt aus. Ich schüttle den Kopf. Ich will nicht alt aussehen, will nicht Rentner sein und nur noch vor dem Fernseher sitzen, bis ans Ende meiner Tage.
Die Schulglocke läutet und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich muss los.

Fie sieht großartig aus, so selbstbewusst, so jung, so voller Energie. Ihre Augen strahlen, als sie die Bühne betritt, als letztes, der erste Platz kommt immer zum Schluss. Ich bin ja so stolz auf sie! Dieses Talent mit Worten umzugehen, dass hat sie von ihrem Opa, ganz eindeutig. Kaum hat sie den Mund aufgemacht, ist es still im Saal, die Leute lauschen gespannt auf ihre Worte, die so eindrucksvoll sind, aus dem Mund eines jungen Mädchens.
Sie spricht davon, dass unser Planet grau und ausgetrocknet sein wird, irgendwann in der Zukunft, wenn wir so weiter machen wie bisher. Das dort kein Leben mehr sein wird. Dann gibt es ihn nicht mehr, den blauen Planeten.
„Stellt euch eure Kinder auf dem grauen Planeten vor! Eure Enkel und Urenkel. Wollt ihr das? Keiner will das! Aber ohne zu zögern würde fast jeder von uns in ein Flugzeug steigen, um den Regenwald zu besuchen, um den eigenen Kindern einmal wirklich Schnee zu zeigen, weil es bei uns nicht mehr genug schneit. Wer würde auf 10 Tage Malediven verzichten, wer auf billige Supermarktrosen für Opas Grab. Aus Afrika. Angeflogen. Die Liste ist endlos. Erdbeeren zu jeder Jahreszeit, Schuhe für 10 Euro aus China, Klamotten zu ähnlichen Preisen aus Bangladesch. Wir können nicht einfach die Verantwortung für unseren Planeten auf ein paar Politiker abschieben und ihnen die Schuld für alles geben. Jeder einzelne von uns trägt ein kleines Stück dieser Verantwortung und jeder muss verstehen, wie ernst man diese nehmen muss. Und unsere Aufgabe ist es, dieses Verständnis zu vermitteln. Das ist die Aufgabe derer, die sich über ihre Verantwortung bewusst sind und ja, diesmal ist es auch Aufgabe der Politik. Die Menschen müssen verstehen, was sie ändern müssen, um zu helfen, um die Erde zu retten.“

Ich habe Tränen in den Augen, als sie geendet hat. Sie ist so stark, ganz wie ihr Großvater. Sie bedankt sich bei dem aufmerksamen Publikum. Sie erntet Applaus. Nicht nur aus Höflichkeit, dafür dauert er zu lange, ist zu impulsiv. Nein, es ist Applaus, weil die Menschen an das glauben, was dieses Mädchen auf der Bühne zu ihnen sagt. Ein Schulmädchen, im zarten Alter von gerade einmal 16 Jahren. Aber stark wie ein Löwe, beeindruckend wie ein Adler, elegant im Umgang mit Worten, wie ein Pfau, der seine Feder auszubreiten weiß wie ein Gemälde aus der Hand eines großen Künstlers.
Das ist deine Enkelin, sagt die Stimme in mir drin, und ich denke, ja, das ist sie und ich bin stolz darauf.

Die Bettdecke ist kühl, als ich sie mir bis zur Brust hinauf ziehe, angenehm kühl. Durch das geöffnete Fenster höre ich Regentropfen auf das Fensterbrett aufschlagen. Aber vor mir sehe ich Fie, wie sie da auf der Bühne steht, mit einem Lächeln im Gesicht, nicht schüchtern, sondern stark, überzeugend. Ich sehe, wie die Rektorin ihr ihre Urkunde überreicht. Wie sehr sie sich dieses Blatt Papier doch verdient hat, denke ich. Viel mehr hätte sie noch verdient. Aber diese Ehre ist ein Anfang. Ein guter Anfang. Und wann fängst du an?, fragt die Stimme in meinem Kopf. „Ich?“, frage ich leise in die Stille zurück. „Womit soll ich noch anfangen? Ich bin alt, am Ende des Lebens.“ Aber noch ist das Leben nicht vorbei.

17 ½  Jahre später:
Die alte Frau schloss die Augen, bevor sie einmal tief Luft holte und in das blendend helle Sonnenlicht trat. Ihre tiefen Falten waren Schatten auf dem müden Gesicht, die sie älter werden ließen, fast älter, als sie war. Der dunkle Schatten zu ihren Füßen, der auf dem grauen Asphalt lag, zeichnete ihre kleine Gestalt so, wie sie sich manchmal in den schlechten Momenten fühlte. Alt und grau, zusammengeschrumpft unter der Last eines langen Lebens. Aber heute war sie stark, an der Seite ihrer Enkelin. Und in den alten, faltigen Händen hielt sie ein kleines Plakat mit der Aufschrift: „Unser Planet – blau, nicht grau. Wenn du dafür kämpfst!“ Und egal, wie sehr ihre Arme unter der Last zitterten, die sie zu tragen hatten, sie gab nicht auf, denn sie kämpfte für etwas, das ihr wichtig war. Für ihr Herzensanliegen. Für unsere Erde, unsere Zukunft. Schritt für Schritt ging sie mit, mit all diesen Menschen, die das gleiche Ziel, das gleiche Anliegen hatten.
Und irgendwann, als ihre Kraft nicht mehr alleine reichte, hakte sich ihre Enkelin bei ihr ein und zusammen gingen sie weiter.
Und als dann ihre Kraft ganz verbraucht war, sank sie zu Boden. Die junge Frau zu ihrer Seite kniete sich neben sie und nahm ihre Hand. Menschen blieben stehen, bildeten einen Kreis um das merkwürdige Paar. Die alte Frau lächelte, als sie das letzte Mal tief einatmete, drückte noch einmal die Hand ihrer Enkelin. Und dann starrten die grünen Augen unbeirrt in den blauen Sommerhimmel. 
Über Fies Wangen liefen Tränen, aber irgendwie lächelte sie doch. Denn ihre Großmutter war gestorben, während sie etwas tat, was sie liebte. Weil es das Richtige war. Für unsere Erde.

Mehr Infos zum Schreibwettbewerb