Fünfter Juni

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Gloria J. Hettig, 17 Jahre

Cerise schaut gedankenverloren aus dem Fenster und kaut an ihrem Stift. Geschichtshausaufgaben... Es geht um fossile Brennstoffe und wie die Menschen damit umgegangen sind. Cerise schüttelt sich bei dem Gedanken an eine Luft voller Schadstoffe, an einen grauen, giftigen Nebel, der alles umhüllt. Hier ist die Luft klar und rein, der Himmel hellblau. Als sie wieder auf das Display ihres Tablets schaut, steht da nichts weiter als das Datum: 5. Juni 2150.
Sie steht auf und geht in die offene Wohnküche, um sich etwas zu essen zu holen. Am liebsten würde sie Schokolade naschen, doch ihre Eltern bestehen darauf, dass sie sich gesund ernährt und eine der Smoothie-Mischungen nimmt. Sie sucht sich die rote  aus und der Kühlschrank gibt ein Geräusch von sich; die Wahl ist registriert und wird ihren Eltern auf der Arbeit angezeigt. Cerise verdreht die Augen in die Richtung, in der sie die Kamera vermutet.

Ida wacht vom Husten ihres kleinen Bruders auf. Max hat Asthma und sie hat während des Lernens das Fenster aufgelassen. Nur auf Kipp, weil es so verdammt heiß war. Sie muss wohl eingeschlafen sein... Die Hitze ist immer noch da, schwer und drückend liegt sie im Raum. Max schaut sie strafend an und verschwindet wieder aus dem gemeinsamen Zimmer. Ida richtet sich auf und schüttelt den Kopf. Sie muss sich konzentrieren... Wenn sie diese Prüfung vermasselt, wird sie nicht zur Oberschule zugelassen, und dann wird sie niemals die Chance auf einen guten Job haben, der sie hier raus bringt.
Weg von den zerfallenden Gesichtern und Gebäuden, den ewig gleichen Versprechungen. Den ständigen Demonstrationen und Auseinandersetzungen mit „denen da oben“, wie ihre Mutter sie nennt. Wegen den steigenden Meerhöhen und Schadstoffgrenzwerten, den sinkenden Löhnen und Produktnamen im Regal.
Sie hört die draußen auf der Straße, darunter auch ihre Mutter. Sie hat ihren Job verloren und kann die Luftfilter für Max nicht mehr bezahlen. Ida hält sich die Ohren zu, in ihrem Kopf wummert es.

Cerise legt den Eingabestift zur Seite, sie ist fertig mit den Aufgaben. Ihre smarte Armbanduhr blinkt grün, sie darf jetzt tun, was sie möchte.
Wie sonst auch immer geht sie in den weitläufigen Garten und setzt sich unter ihrem Lieblingsplatz, den Kirschenbaum. Ihre Bienen schwirren emsig um die Knospen herum. Sie hat ihr eigenes Volk, das neben ihrem Hochbeet für Kräuter und Gemüse steht. Cerise ist gerne draußen und kümmert sich um ihre „Schätze“, aber ihre Eltern hätten es lieber, wenn sie sich mehr mit Informatik beschäftigen würde. Ihr Vater ist nicht hier, in dieser community, geboren, er hat sich von außerhalb hochgearbeitet. Obwohl sie durch das Vermögen ihrer Mutter abgesichert sind, möchte er, dass Cerise etwas aus sich macht. Sie bewundert ihren Paps und würde so gerne seine Eltern sehen...

„Fünfter Juni! Wisst ihr noch, was das heißt? Wir ersticken hier!“
Ida schließt das Fenster mit einem Ruck. Die Stimmen hallen in ihr nach, gehen nicht weg. Sie hat seit zwei Tagen kaum geschlafen, ist nur am pauken. Wenn sie nicht so gestresst wäre damit, wäre sie noch einkaufen gewesen und in der Küche würden mehr als ein paar alte Konserven stehen, von denen sie im Moment leben. Der Kühlschrank zieht zu viel Strom, einen anderen können sie sich nicht leisten. Ida hat Angst, so zu enden wie ihr Bruder. Der hat den Test nicht bestanden und arbeitet in einer Entsorgungsfabrik. Sie streicht sich die Haare hinter das Ohr und wendet sich erneut ihren Unterlagen zu.

Ida und Cerise sind fünfzehn und leben nur einige Meter voneinander entfernt – Cerise in einem riesigen Bunkersystem mit künstlicher Sonne für die Superreichen. Dort hineinzukommen ist schier unmöglich, und wer aufgenommen wird, muss seine Familie oben zurücklassen. Oben, in der realen Welt, die immer weiter stirbt.
Cerise und Ida werden sich nie begegnen.
Der fünfte Juni ist der Weltumwelttag der Vereinten Nationen, ein jährlicher Aktionstag.

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