Schneeweiß.

Beitrag zum Schreibwettbewerb Morgengrün von Iona W., 15 Jahre

Meine Hand griff zögerlich nach dem alten Karton mit ihren Sachen. Ich kramte ein kleines Notizbuch voller beschriebener Seiten hervor. Ich hatte es noch nie zuvor gesehen. Buchstaben auf dem vordersten Blatt formten ein einziges Wort, ihren Namen: Linda. „Mama?“, ich hielt ihr das gebundene Heft hin. „Hast du das schon einmal gesehen?“. Sie strich mit ihrer Hand über die Oberfläche des Buches. „Nein.“, staunte sie. „Ich wusste gar nicht, dass sie früher geschrieben hat.“ „Wollen wir ein bisschen darin blättern?“, fragte ich vorsichtig. Sie nickte. Wir setzten uns auf die Fauteuils, neben uns knisterte und knackte das Feuer im Kamin. Mama hatte es der Atmosphäre wegen entzündet, als wir heute in Omas Haus kamen.

„Schneeweiß.“, begann sie vorzulesen. „Der Garten. Die Bäume, Sträucher, der schmale Weg. Die Vögel haben lange aufgehört zu zwitschern, es krähen nur die Raben. Alles weiß. Hinten, im Haus, ein Kind. Die Augen voller Neugier, Freude, Überraschung. Sein kleines Herz so warm und arglos. Die Nase an die Fensterscheibe gepresst, das Kinn auf die Hand gestützt. Vielleicht war es gerade erst aufgewacht, vielleicht war dieser Blick der erste, den es an jenem Wintertag nach draußen geworfen hatte. Nun saß es da. Bestaunte die Schneeflocken, wie sie auf die Erde fielen. Eine nach der anderen. Was für eine reine, unschuldige Farbe sie war, die des Schnees. Sie ließ die Menschen alles vergessen. Die Zeit, die Sorgen und Pflichten. Während der Schnee so fiel, wie Staubzucker, hinunter von den Wolken aus Watte, wünschte das Kind sich, dass es für immer so sein würde. „Schneeflöckchen, Weißröckchen wann kommst du geschneit? Du wohnst in den Wolken, dein Weg ist so weit.“, sang es leise, während sein Blick sich sehnsüchtig von der Landschaft löste und das kleine Gesicht schließlich vom Fenster verschwand.“

Mit einem Taschentuch wischte Mutter die Tränen von ihren Wangen. Ihre glasigen Augen starrten auf die vergilbte Seite. „Mama? Was ist das, der Schnee?“ Sie schluchzte und nahm mich in den Arm. „Es ist schon gut, Mama. Ich vermisse Oma auch.“

Nach einiger Zeit sprach sie leise: „Der Schnee ist etwas, das es einmal gab, als es uns beide noch nicht gab. Er war eines der schönsten Dinge, die Mutter Natur je erschaffen hat...“, in ihrer Stimme lag Melancholie. „…bevor es so warm auf der Erde wurde, weißt du?“. „Meine Mutter hat uns Kindern immer zu Weihnachten von ihm erzählt. Du wirst noch mehr über ihn lernen, wenn du älter bist und in die Schule gehst.“ Dann legte sie ihre Hände auf meine Schultern und sah mir in die Augen. „Versprichst du mir eines?“ „Was denn?“, fragte ich. Sie atmete tief ein- und wieder aus. Dann stand sie auf, ging zu der alten Kommode neben dem Esstisch und kehrte wenig später mit einem alten Foto in der Hand zurück. Sie steckte es mir zu. Auf ihm war ein Mädchen zu sehen, dass in seinem Zimmer sitzt, den Ellenbogen auf das Fensterbrett gestützt, während es draußen das Schneegestöber betrachtet. 

„Versprich mir, dass du für Oma an den Schnee denkst, wenn du groß bist. Sie hat ihn so geliebt.“

Mehr Infos zum Schreibwettbewerb

Autorin / Autor: Iona W., 15 Jahre